Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
untertänig diente.
Tobias war ein Dreckskerl. Aber er war auch ihr Bruder.
Der Vorfall mit Hannah hatte Selina trotzdem dazu gebracht, sich ihn nach langer Zeit wieder einmal vorzuknöpfen. Kaum war er mit seiner kleinen Orgie fertig gewesen, war sie zu ihm gestürmt. Die ganze Wut, die sich über Monate in ihr aufgestaut hatte, war ungezügelt auf ihn niedergegangen. Zuerst war er perplex und überrascht gewesen – dann hatte er zum Gegenschlag ausgeholt.
Es war hässlich geworden. Sehr hässlich.
Er kannte ihre Schwachstellen besser als jeder andere, vielleicht sogar besser als sie selbst. Als ihm die Argumente ausgingen, hatte er nicht nur seine Finger in ihre Wunden gelegt, er hatte die ganze Hand hineingesteckt und darin herumgewühlt. Bis sie geflohen war, ein heulendes Häufchen Elend voller Selbstzweifel und Selbsthass, zornig darüber, sich nicht gegen ihn zur Wehr setzen zu können, und gleichzeitig außerstande, ihm nicht zu verzeihen.
Sie hatte getobt, geschrien, geweint. Gerade weil ihr bewusst gewesen war, dass sie in den Keller zurückkehren und sich mit Tobias versöhnen würde. Früher oder später. Ohne ihn war sie aufgeschmissen, ohne ihn konnte sie nicht leben, nicht atmen, nicht existieren. Ohne ihn kam sie ja nicht einmal nach Hause.
Und dann war er aufgetaucht.
Sie hatte ihn noch nie wirklich gemocht. Er war ihr immer merkwürdig distanziert, irgendwie anders, fast schon abnorm vorgekommen. Aber wenn sich ein Retter in der Not anbot, war man nicht sonderlich wählerisch.
Trotzig hatte sie gedacht, sie würde ihrem Bruder zeigen, dass sie ihn nicht brauchte. Hatte gehofft, dass er wenigstens richtig Angst bekommen würde, wenn sie plötzlich verschwunden war. Er konnte schließlich nicht wissen, dass sie jemanden gefunden hatte, der sie nach Hause bringen würde.
Als das Quietschen der Bremsen ertönte, und der Wagen zum Stehen kam, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie hatte sich in Gedanken so sehr an Tobias festgebissen, dass sie für einen Moment vergessen hatte, in welcher Situation sie sich befand.
Sie lauschte. Der Wagen schaukelte, als der Fahrer die Tür öffnete und ausstieg. Sie hörte seine Schritte. Er ging um den Transporter herum, dann wurde ein Schlüssel im Schloss herumgedreht, und die hintere Tür schwang auf. Helligkeit flutete in ihr Gefängnis, ihre Augen tränten.
»Endstation«, murmelte die vertraute Stimme, bevor der Mann zu ihr in den Wagen stieg.
18
Das ehemalige Schlachthaus lag zwischen einer Lagerhalle und einer Reinigungsfirma und war eindeutig sanierungsbedürftig. Der Putz an der Vorderseite des langgestreckten Gebäudes blätterte an vielen Stellen ab, Risse zogen sich durch das Mauerwerk, und die Fenster zur Straßenseite hin waren mit Brettern vernagelt.
Jürgen Drach hatte das Gebäude günstig ersteigert, verfügte aber offenbar nicht über die notwendigen Mittel, um es ordentlich instand zu setzen. Oder er ließ es aus irgendeinem Grund absichtlich verkommen.
Jennifer hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Als sie die Autotür zuwarf, wechselte sie einen letzten Blick mit Oliver. Er schien noch immer fest entschlossen zu sein.
Die Kommissarin wusste, dass sie eindeutig gegen die Vorschriften verstieß. Sie hätte mindestens noch einen zweiten Polizeibeamten mitnehmen müssen. Oliver gehörte an seinen Schreibtisch im Präsidium, nicht hierher, um mit einem potenziellen Serienkiller einen Plausch zu halten.
Er begab sich in eine Situation, die leicht außer Kontrolle geraten und für sie beide gefährlich werden konnte. Wenn etwas schiefging, wäre er, unbewaffnet und für solche Einsätze nicht ausgebildet, ein leichtes und wahrscheinlich auch bevorzugtes Angriffsziel. Eine Tatsache, die Jennifer verdammt viel ausmachte, wie sie überrascht feststellte.
Sie legten die wenigen Schritte zum Haupteingang zurück, neben dem noch immer das Schild mit dem Firmennamen der Metzgerei hing. Anstatt es zu entfernen, hatte jemand die ins Metall gefrästen Buchstaben notdürftig zerkratzt. Die Klingel an der Hauswand neben der massiv wirkenden Eingangstür hatte es früher offenbar noch nicht gegeben, denn das Kabel war blank auf dem Putz verlegt und verschwand durch ein Loch in einem der Fensterrahmen ins Gebäudeinnere. Auf dem Klingelschild stand kein Name.
»Er empfängt hier offensichtlich keine Kunden«, bemerkte Oliver trocken, bevor er auf den Klingelknopf drückte.
Mehrere Sekunden verstrichen. Es rührte sich nichts. Jennifer
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