Herzenskälte: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
auszuweichen, allerdings mit mäßigem Erfolg.
Ihr Gastgeber ließ durch nichts erkennen, ob er ihre Unsicherheit bemerkte. Er schien auf andere Dinge konzentriert zu sein. »Wie hat dir der Samstagabend gefallen?«, fragte er schließlich mit einem sanften Lächeln.
»Es war … interessant.« Sie hatte die meiste Zeit an Aileen geklebt, während diese sich zwischen den dunklen Gestalten bewegt und Unterhaltungen geführt hatte, in denen es meist um Jezebel und deren Kunst gegangen war. Hannah hatte geschwiegen und beobachtet, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu gehen und ihrer Neugier.
»Und, was denkst du? Sind wir eine Sekte?«
Mit dieser direkten Frage hatte Hannah nicht gerechnet. Sie zögerte sekundenlang, nicht sicher, was sie darauf antworten sollte.
»Du kannst offen sprechen«, versicherte Jesaja. »Ich werde schon nicht aufspringen und dir die Kehle durchbeißen.«
Hannah rang sich ein kurzes, nervöses Lachen ab, obwohl sie seine Bemerkung alles andere als witzig fand.
Sie hatte Angst. Gleichzeitig drängte es sie, ihm ehrlich zu antworten. »Was ich am Samstag gesehen habe, waren einige teils sehr seltsame Menschen, die die Enthüllung eines Bildes gefeiert haben. Die meisten schienen Liebhaber morbider Kunst zu sein.«
»Die meisten?«, hakte Jesaja nach, dem ihr Zögern nicht entgangen war.
Hannah trank einen weiteren Schluck und hielt sich anschließend an dem halb leeren Glas fest. »Mir ist aufgefallen, dass es eine kleine Gruppe von Leuten gab, denen gegenüber sich die anderen Gäste beinahe … unterwürfig verhalten haben. Als wären sie irgendwelche Berühmtheiten. Und alle diese Leute hatten so einen Ring am Finger.« Sie blickte auf den Ring mit dem großen, dunkelroten Stein, den Jesaja heute an der linken Hand trug. »Ich fand das irgendwie merkwürdig.«
»Du hast eine sehr gute Beobachtungsgabe.« Jesaja lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln zurück. »Gefallen dir Jezebels Werke?«
Der plötzliche Themenwechsel irritierte Hannah, doch sie wagte nicht, sich ihm zu widersetzen. »Sie sind … schön, aber auch verstörend. Sie berühren mich und stoßen mich zugleich ab.«
»Ja, so geht es vielen«, erwiderte Jesaja. »Ich frage mich immer, was die Menschen mehr anzieht. Das, was sie schön finden, oder das, was sie abstößt.«
Hannah wollte nicht über die Kunst von Jesajas Schwester diskutieren, deshalb fragte sie unverblümt: »Wie heißt du eigentlich wirklich? Und deine Schwester? Jesaja, Jezebel … das sind doch nicht eure richtigen Namen.« Auf dem Klingelschild hatte Fiedler gestanden.
»Das hast du also ebenfalls durchschaut.« Er nickte. »Dann wäre es wohl an der Zeit, mich vorzustellen. Ich bin Tobias. Meine Schwester heißt Selina. Jesaja und Jezebel … das sind nur unsere Namen für die Eingeweihten.«
»Für die Eingeweihten?«, wiederholte Hannah.
Tobias stieß einen Seufzer aus. »Das klingt wohl schon wieder ziemlich nach Sekte, oder?« Er schüttelte den Kopf. »Wir sind keine Sekte, Hannah.«
»Und was seid ihr dann?«
»Ein mehr oder minder loser Zusammenschluss von Menschen, die der Dunkelheit zugetan sind, der Melancholie, dem Tod so sehr wie dem Leben. Andersartige, wenn man so will, die ihresgleichen suchen und sonst nirgendwo wirklich dazugehören.« Tobias schwieg kurz, bevor er erneut nickte. »Es gibt einen harten Kern. Diejenigen, die diesen Ring tragen. Die Organisatoren, wenn man so will.«
Hannah öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, beschloss dann aber, ihre Zweifel für sich zu behalten. Sie wollte Tobias nicht vor den Kopf stoßen.
Er lächelte sie an. »Unsere Gruppierung unterwirft niemanden irgendwelchen Regeln. Wir schließen niemanden aus. Wir ziehen Menschen an, die gerne in dunkle Welten eintauchen, sich aber nicht in die Schablonen irgendwelcher Subkulturen zwingen lassen wollen. Die die Möglichkeit haben wollen, ihre dunkle Seite auszuleben, ohne sich an irgendeinen Kodex halten zu müssen.«
Als sie immer noch nichts sagte, fuhr Tobias fort: »Am Anfang waren wir nur wenige, aber dann wurden wir immer mehr. Also habe ich begonnen, Foren zu schaffen und Veranstaltungen zu organisieren. Diskussionsgruppen einzurichten, in denen die Leute einander ihre dunkelsten und geheimsten Gedanken mitteilen können, ohne Zurückweisung fürchten zu müssen. Abende, an denen sie gänzlich in ihre Phantasiewelten eintauchen können, ohne für verrückt erklärt zu werden.«
Tobias schüttelte den Kopf. »Das
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