Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
unbeschwerter Kindskopf gewesen war und wohl auch ewig bleiben würde, auch etwas Beruhigendes. Nicht wenige derer, die Hunderte von Jahren lebten und zwischen Ober- und Unterwelt verkehrten, wurden im Laufe dieser endlos langen Zeit immer wunderlicher, zurückgezogen, missmutig, verschroben, unfähig oder auch gar nicht mehr bereit, sich mit der Entwicklung der Welt der Sterblichen auseinanderzusetzen. Sie zogen sich in die Unterwelt zurück und isolierten sich immer mehr. Manche wurden verrückt. Andere wiederum sahen die Feuerseen als einzigen Ausweg.
Malthus konnte sowas nicht passieren. Wie ein Schwamm nahm er alles auf, was die Oberwelt an Annehmlichkeiten zu bieten hatte – Essen, Trinken, sämtliche modischen Trends, sei es in der Kleidung oder an technischen Neuheiten. Von jeder neuen Generation nahm er begeistert deren Jargon an. Mit einem Wort: Malthus war nicht nur äußerst anpassungsfähig, er war ein wahres Chamäleon, was ihn vor den Depressionen seiner weniger flexiblen Artgenossen bewahrte.
Offensichtlich wollte Malthus noch etwas sagen, schluckte es aber lieber hinunter.
„War noch etwas?“, fragte Dagan.
„Nichts Besonderes.“ Malthus grinste. „Osiris wird dir die Hölle heißmachen. Du solltest die Hosen lieber nicht herunterlassen, selbst wenn er dich darum bittet.“
Lachend drehte er sich um und machte sich auf den Rückweg. Dagan blickte ihm nach und sah, wie er die Hand hob, ohne sich umzudrehen, zum Abschied winkte und darauf in der gleichen Bewegung den Mittelfinger emporstreckte. Dagan hörte sein Lachen noch, als Malthus allmählich im Halbdunkel des grünen Dämmerlichts verschwand.
Dagan musste an das Mädchen denken. Diese unmissverständliche Geste hätte auch zu ihr gut gepasst. Aber das war kein Zufall. Er dachte oft an diese junge Frau mit ihren dunklen Locken und der kaffeebraunen Haut. Erst vor ein paar Stunden, als er unter der Dusche gestanden hatte und das warme Wasser ihm auf den Rücken geprasselt war. Er sah sie vor sich, ihr glatt an den Kopf zurückgestrichenes, nasses Haar, die Wassertropfen, die an ihrer Haut herunterperlten, ihren Mund … was sie mit ihm alles anstellte … Er träumte von ihr. Dabei hatten Reaper keine Träume.
Er hatte in den letzten Tagen versucht, etwas über sie herauszufinden. Über sie und über das seltsame Ankh, das sie um den Hals getragen hatte. Aber seine Nachforschungen waren völlig ergebnislos geblieben.
Dagan schüttelte diese Gedanken ab. Er war am Fuß einer breiten steinernen Treppe angekommen. Oben entdeckte er eine Gestalt mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf eines Schakals. In der Armbeuge hielt sie das Sinnbild der Macht der ägyptischen Götter, das einem Dreschflegel ähnelte. In der anderen hielt die Gestalt ein Ankh, Sinnbild des Lebens. Aber im Unterschied zu dem, das Dagan bei dem Mädchen und später bei dem Serienkiller gesehen hatte, war es nur das Kreuz mit dem unregelmäßigen Oval am oberen Ende – ohne Flügel und Hörner.
„Ich grüße dich, Anubis“, sagte Dagan und deutete eine Verbeugung an.
„Dagan Krayl“, donnerte ihm von oben die Stimme entgegen. „Du bist nicht willkommen.“
Dagan war nicht sonderlich überrascht. „Ich bitte dich, in mir heute nicht Sutekhs Sohn zu sehen, sondern einen neutralen Unterhändler, der den Ausgleich sucht“, erwiderte er.
Die Schakalaugen musterten ihn mit durchdringendem Blick, dem Dagan standhielt. Anubis schien die an ihn gerichteten Worte abzuwägen. Nach einer quälend langen Pause sagte er dann: „Du bist Sutekhs Sohn, Dagan Krayl, und du wirst es immer bleiben.“
Nicht besonders originell, dachte Dagan. Wer sollte das besser wissen als er selbst, der um die Anerkennung seiner Vaters gekämpft und unter dessen Zorn und Tyrannei gelitten hatte wie kein anderer! Welch erbitterter Kampf war es gewesen, sich von Sutekh zu emanzipieren.
„Ich bringe Neuigkeiten, die nützlich sein könnten“, erklärte Dagan.
„Möglich, Sutekh-Sohn“, erwiderte Anubis unbeeindruckt. „Aber du bist nicht gekommen, um Neuigkeiten zu bringen, sondern um welche zu erhalten.“
Auch das war richtig. Vier Tage waren jetzt vergangen, seit er Joe Marins Seele geholt hatte. Seitdem hatte er versucht, etawas über das Mädchen in Erfahrung zu bringen, das den gleichen Anhänger getragen hatte, wie er ihn bei Marin gesehen hatte, wenn es nicht sogar derselbe gewesen war. Aber nichts, gar nichts hatten seine Nachforschungen ergeben. Stattdessen hatte sich
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