Herzenstimmen
fliehen können, doch er wartete am Ende immer auf uns. Erst später habe ich verstanden, warum.
Bei einer Minenexplosion verlor er einen Finger, ein Streifschuss riss ihm den rechten Oberarm auf.
Es war eine Zeit, in der ich mich mehr und mehr vor ihm fürchtete.
Wenn er mich anschaute, lief mir ein Schauder den Rücken hinunter. In den Augen der anderen zeigten sich ihre Todesangst, ihre Freude und Erleichterung, wenn sie von einem Einsatz lebend zurückkehrten, ihre Dankbarkeit, wenn sie eine Extraportion Reis bekamen. Sein Blick war völlig teilnahmslos. Als berühre ihn nichts von all dem, was um ihn herum geschah.
Er widersetzte sich den Anweisungen der Soldaten nicht mehr, trotzdem war er in seinem Gehorsam anders als wir. Ich hatte noch immer nicht das Gefühl, dass er sie fürchtete, eher, dass er nur auf den richtigen Moment wartete, sich zu wehren.
Aber vielleicht war es gar keine Gleichgültigkeit. Wir, die anderen Träger, gaben uns mit der Zeit auf, warteten apathisch und willenlos auf den Tod, während in ihm eine Verachtung wuchs, die vor nichts und niemandem haltmachte, die ihn am Leben hielt. Ich hatte das Gefühl, es war nicht viel, was ihn in dieserVerachtung von der Brutalität der Soldaten trennte.
Das änderte sich erst, nachdem Ko Bo Bo ins Lager kam.
Er gehörte zu einer Gruppe von Jugendlichen, die sie direkt aus ihrem Dorf an die Front verschleppt hatten. Er war der Jüngste und körperlich der Schwächste von uns allen. Seine zarten Hand- und Fußgelenke, die großen, dunkelbraunen, fast schwarzen Augen erinnerten mich an meine Schwester. Er tat mir leid. Er war ein Kind. Ich hatte schon einige von seinem Typ, mit seiner Konstitution, im Lager ankommen sehen. Keiner hatte länger als ein paar Wochen überlebt.
In den ersten Tagen traute er sich nicht aus unserer Hütte. Kauerte die ganze Zeit in einer Ecke, selbst in der Nacht blieb er dort hocken. Wir stellten ihm eine kleine Schale Reis hin, er rührte ihn nicht an. Wenn wir ihn etwas fragten, senkte er den Kopf und schwieg. Ein paar von uns hockten sich zu ihm und versuchten, ihn zum Reden zu bringen, doch er antwortete nicht. Am dritten Abend nahm Thar Thar den Schlafenden in seine Arme und legte ihn auf eine Matte neben sich.
In der Nacht hörte ich ein Flüstern. Ich erkannte Thar Thars Stimme, die andere war mir unbekannt. Am Morgen aß Ko Bo Bo zum ersten Mal etwas Reis und trockenen Fisch.
Zwei Wochen nach seiner Ankunft musste er mit uns auf seine erste Patrouille. Die Soldaten wollten ein Dorf durchsuchen, sie vermuteten, dass die Bauern Waffen für die Rebellen versteckten. Die Siedlung lag nur wenige Stunden entfernt, war gut über breite, ausgetretene Wege zu erreichen, die Bauern nutzten die Pfade regelmäßig mit ihren Ochsenkarren, deshalb mussten wir keine Angst vor Minen haben. Der Hinweg verlief ohne besondere Vorkommnisse. Ko Bo Bo trug einen Kanister Wasser, neben ihm ging Thar Thar mit einer Kiste Munition auf der Schulter. Da uns die Soldaten befohlen hatten zu schweigen, sagte in den knapp drei Stunden niemand ein Wort.
Die Ersten, die uns entdeckten, waren Kinder, die auf Bäumen am Dorfrand herumkletterten. Die Soldaten umstellten den ersten Hof, sechs von ihnen durchsuchten Haus und Grundstück. Ich musste mit zwei anderen Trägern an einigen Stellen die Erde umgraben, ohne auf etwas Verdächtiges zu stoßen. Drei Frauen mit Babys in den Armen, ein alter Mann und einige Kinder beobachteten uns stumm und in großer Furcht. Ich sah, wie sie sich an den Händen hielten, ihre Körper zitterten vor Angst.
Auch auf dem zweiten Hof fanden wir nichts. Trotzdem war die Anspannung dort noch größer als auf dem ersten. Zwei Jungs, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, rannten die ganze Zeit aufgeregt hin und her, und in den Blicken einer alten Frau glaubte ich nicht nur Angst zu sehen, hätte aber auch nicht sagen können, was sie noch ausdrückten. Eine junge Frau schrie hysterisch, ihrer Mutter gelang es nur mit Mühe, sie zu beruhigen.
Der dritte Hof lag da, als hätten ihn seine Bewohner überstürzt verlassen. Auf einer Leine hingen Longys und Hemden zum Trocknen, aus der Hütte stieg der Qualm eines glimmenden Feuers, gackernde Hühner rannten aufgeregt herum. Von den Bauern keine Spur. Zwei Soldaten stiegen mit Gewehren im Anschlag die Treppe hinauf, schauten sich misstrauisch im Haus um, es war leer. Ein Offizier befahl, unter der Hütte zu graben, auch dort fanden wir nichts. Plötzlich rief uns ein
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