Herzgefaengnis
studierte Wirtschaftsinformatik in Cottbus. Er kam oft am Wochenende heim, wenn nicht gerade irgendeine Festivität an seiner Uni stattfand. Zuletzt hatten wir während meiner Prüfungswoche telefoniert.
„Oh, der kommt morgen Abend. Feiert wahrscheinlich gerade noch irgendeine Semesterbeginn-, Semestermitte- oder Semesterende-Party.“
„Tja, Papa, Studentenleben halt. Hab ich auch gemacht.“ Ich grinste.
Es war schon früher Nachmittag, als ich aufbrach, nicht ohne zu versprechen, Leo wenigstens zu fragen, ob er am Sonntag mit zum Essen käme. Na gut. Wie ich diese Frage stellte und wann, das blieb mir überlassen.
Im Auto piepste und summte mein Handy. Ich zog es aus der Tasche. Hatte Leo sich gemeldet?
5 unbeantwortete Anrufe, 2 Nachrichten auf meiner Mailbox. 3 SMS.
Eine Nachricht war von Franz. „Brauchst heute nich´ zu kommen, ick habe jeschlossen. Tanzen is´ ja heute sowieso nich´, da is´ bei uns eh nischt los. Komm einfach nächsten Freitach wieda.“ Das kam mir gerade recht; heute hatte ich keinen rechten Elan zum Arbeiten.
Die zweite Nachricht war von Leo. „Ich muss hier noch Überstunden schieben, wir haben eine Festnahme. Es wird zu spät, um noch zu dir zu kommen. Ruf mich mal zwischendurch an wegen morgen.“ Och menno.
Die SMS waren von Heimke. So ein Mist.
„Ich krieg dich“ – „Ich warte auf dich“ – „Schlampe.“ Na toll. Wie viele Prepaid-Karten sollte ich mir noch zulegen, um sie los zu werden? Drei Mal hatte sie angerufen.
Sie wartete bestimmt auf mich. Wo? Vor meiner Haustür? So wie gestern? Ich fragte mich, wie lange ich die überfällige Begegnung mit ihr noch würde hinauszögern können. Beklommen trat ich den Heimweg an. Verdammt, warum konnte ich nicht einfach so wie sonst nach Hause kommen? Ich verfluchte meinen Leichtsinn, der mich damals zu ihr in die Danziger Straße geführt hatte.
Ich hielt den Atem an, als ich um die Ecke in meine Straße einbog. Da stand sie. Schaute hoch zu meinem Fenster. Weiß Gott, woher sie wusste, hinter welchem Fenster sich meine Wohnung verbarg. Wie lange machte sie das schon? Warum hatte ich erst gestern bemerkt, dass sie mich verfolgte? Ich legte den Rückwärtsgang ein und wendete. In einer Nebenstraße fand ich einen Parkplatz.
Fünf Minuten von hier wohnte Nick, und auch Lucas´ Wohnung war nicht weit. Wenn sie mich nicht verfolgte, konnte ich ungesehen zu Nick gehen und dort hoffentlich Zuflucht finden.
Ich schloss die Autotür so geräuschlos wie möglich und begann, in Richtung Nicks Wohnung zu laufen.
Der Summer ging, und aufatmend betrat ich das Treppenhaus.
„Sabina! So eine Überraschung. Wenn ich gewusst hätte … Nick ist noch nicht zurück.“
Nicks Ehemann Cedric umarmte mich und küsste mich auf französische Weise links und rechts auf die Wange. „Komm doch ´rein. Nick ist bestimmt gleich da.“
Im Flur türmten sich mehr und mehr Umzugskartons, die Regale im Wohnzimmer waren leer und verwaist. Hellere Rechtecke an den Wänden zeigten, wo einmal die Bilder gehangen hatten. Cedric hob entschuldigend die Hände: „Wir sind noch nicht fertig mit unserem Umzug – jetzt sieht es ein wenig, ähh …“, er suchte nach dem deutschen Wort, „chaotisch aus.“
Cedric sprach mit weichem französischen Akzent. Er stammte aus der Bretagne und war nach seinem Musikstudium in Berlin hängen geblieben. Nicht zuletzt wegen Nick. Niemand würde glauben, dass dieser 1,90-Typ mit den langen blonden Locken 1. Cellist im Symphonieorchester war. Dass er einen Frack beim Auftritt trug und darin noch nicht mal verkleidet aussah. Wenn man ihn so sah wie jetzt, in einer sehr weiten Jeans und einem Flanellhemd, konnte man ihn ohne weiteres auch für einen Möbelpacker halten – eine Tätigkeit, die er zu seinem Ärger gerade ziemlich häufig ausübte.
„Nick ist bei ihrer Schwester, Babysachen anschauen.“ Er verdrehte die Augen. Sie hatten bereits eine ganze Kommode voll Erstlingssachen, die mir Nick neulich stolz vorgeführt hatte.
„Sie glaubt, das reicht nicht“, erklärte Cedric und wies auf zwei Umzugskartons, in denen der Inhalt der Kommode jetzt verpackt war.
„Ich kann dir helfen, Cedric.“
„Nein, ich bin froh, wenn ich eine kleine Pause machen kann. Willst du einen Cappuccino?“
Auf jeden Fall. Wir ließen uns in das gemütliche Lümmelsofa fallen, das im Raum ein wenig verloren wirkte.
„Wart ihr verabredet?“ wollte Cedric wissen.
„Nein, ich bin … abgehauen.“
„Abge´auen?“
Weitere Kostenlose Bücher