Herzgespinst - Thriller
»Sei wachsam, mein Junge«, sagte er ernst. Und diesmal war keine Spur der üblichen Ironie in seiner Stimme.
Nachdem er fort war, hatte Julias Mutter noch Pfannkuchen gebrutzelt und extra ein frisches Glas ihrer selbst eingekochten Pflaumen geöffnet, fast wie in alten Zeiten.
»Schade, dass Fredo tot ist«, sagte Julia während des Essens plötzlich. Sie fing herzzerreißend an zu weinen und war kaum zu trösten. Erst als Oliver ihr eine lustige aus dem Stegreif erfundene Geschichte über den Katzenhimmel erzählte, beruhigte sie sich wieder.
»Du bist ehrlich der tollste Mann, den ich kenne, Olli«, sagte Julia eine Weile später und kuschelte sich vertrauensvoll an ihn. »Noch mutiger als Papa.«
Sie fläzten sich auf Julias großem Bett herum und Oliver blätterte abwesend eine alte Musikzeitschrift durc h, die er bei Julia auf dem Schreibtisch gefunden hatte. »Blödsinn«, widersprach Oliver. »Dein Vater war echt der coolste Typ unter der Sonne. An den kommt keiner ran.«
Julia sagte unerwartet heftig: »Er konnte aber auch richtig gemein sein. Nie hat er mich ernst genommen. Nur weil jemand tot ist, muss man ihm ja nicht gleich einen Heiligenschein verpassen. Du hast ihn nicht so gut gekannt wie ich.«
Oliver sah Julia erstaunt an. »Vielleicht nicht so gut, aber gut genug. Mehr sage ich nicht dazu.«
Julia öffnete die Lippen, entschied sich dann aber doch lieber zu schweigen.
»Niemand sonst hätte das für mich gemacht«, begann sie kurze Zeit später erneut. »Einfach so seinen Traum aufgeben. Du bist ein echter Held, Olli.«
Oliver spürte einen schmerzenden Stich in seiner Brust.
Bisher hatte er immer noch gehofft, dass Tom einsehen würde, was Luis für einen Schaden angerichtet hatte, und einen neuen Gitarristen für UNDERGROUND suchen.
Aber wenn Oliver ehrlich war, sah es nicht danach aus. Vielmehr hatten sich Luis und Tom zusammengetan, Luis’ angekratzten Ruf auf Gedeih und Verderb wieder sauber zu waschen. Selbst davor, Julia Schläge anzudrohen, schreckten sie nicht zurück. Das war unterirdisch gemein. Das coole Image der Band war nur Fassade. In Wirklichkeit wollte jeder nur seinen Arsch retten.
»Weißt du, die meisten Leute hier sind total neidisch auf dich«, fuhr Julia fort. »Das ist mir erst gestern wieder richtig aufgefallen. Lotte hat echt den Vogel abgeschossen. Sie sagte, du hättest mit der Puppenspielerin herumgeknutscht. Sogar ihren kleinen Bruder hat sie in die Lügengeschichte mit hineingezogen. Wie arm ist das denn? Ich bin echt froh, dass Ferien sind und ich sie eine ganze Weile nicht sehen muss. Aber du musst Bosse unbedingt darüber aufklären, was Lotte für eine intrigante Kuh ist. Schließlich ist er dein bester Freund.«
Sie versuchte Oliver zu küssen. »Seit du hier bist, geht es mir tausendmal besser. Die Sache mit Luis ist mir jetzt schon egal, ich fühle mich auf einmal richtig gut. Soll sich der Loser doch mit dieser aufgeblasenen Shiva zusammentun, das passt viel besser. Der Kiffer und die Zigeunerin, schlimmer geht immer.« Sie kicherte boshaft.
Oliver fürchtete, dass Julias Geplapper seinen Kopf in der nächsten Sekunde zum Bersten brachte.
»Schluss damit!«, sagte er heftig und schob Julia brüsk von sich weg. »Du redest wirklich den totalen Bullshit.« Es war extrem stickig im Zimmer und er hatte das Gefühl, dass er kaum noch Luft bekam.
Hastig stand er auf und ging hinüber zum Fenster.
Er öffnete die Fensterflügel so weit es ging und atmete tief die frische Nachtluft ein. Julia den Rücken zukehrend, sagte er: »Was dir mit Luis passiert ist, tut mir unendlich leid. Trotzdem gibt dir das nicht das Recht, andere zu verunglimpfen. Ich wollte es dir schon die ganze Zeit sagen, aber irgendwie passte es nie.
Ich habe mich total in Shiva verliebt. Sie ist so, wie ich mir meine Traumfrau immer vorgestellt habe. Ich weiß, dass es nicht gerade cool ist, dir das jetzt zu erzählen, wo es dir so schlecht geht. Aber wir beide sind doch best friends, das haben wir uns auf immer und ewig versprochen. Das ist auf seine Art genauso wertvoll, nur eben anders. Wenn ich Shiva nicht gefunden hätte, wäre mir das vielleicht nie aufgefallen. Mit ihr stimmt einfach alles.«
Erst jetzt wagte er, sich umzudrehen und erschrak.
Ju lia war kreidebleich geworden, und die dunklen Ring e um ihre veilchenblauen Augen zusammen mit ihrem blauschwarzen Schneewittchenhaar vermittelten den grausamen Eindruck, dass sie sterbenskrank war.
»Nein«, jammerte sie.
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