Herzgesteuert: Roman (German Edition)
unter fürchterlichsten Schmerzen mit den Zähnen das Handy aus der Brusttasche gezogen und es irgendwann geschafft, auf die Wahlwiederholungstaste zu drücken. Ich glaube, das hat Stunden gedauert.
Das Handy durfte nicht runterfallen, in das Kerosin.
Meine schwedische Schwiegermutter, mit der wir ein paar Stunden zuvor noch gelacht und gefeiert hatten, hat mich nicht verstanden, als ich sagte, wir wären abgestürzt. Ich konnte nicht so gut Schwedisch, und sie nicht genügend Englisch.
Ja, da hing ich nun in der stockfinsteren Nacht, und neben mir auf dem eiskalten Waldboden ist Anna bei Nebel und Nieselregen verblutet. Ich hatte noch versucht, sie wach zu halten, und wir haben geredet. Ich habe gesagt, dass alles gut wird und ich sie mehr liebe als mein Leben. Dass wir noch mal neu anfangen und auch in Schweden leben können, wenn sie da so glücklich ist. Und da hat sie mir noch ein Geständnis gemacht.«
»Welches Geständnis«, flüstere ich tonlos.
»Bevor sie gestorben ist, hat sie mir noch gesagt, dass sie von Peter schwanger sei. Und dass sie mit Peter weiterleben wolle. Nicht mit mir.«
»Um Gottes willen«, stoße ich hervor, und meine Fingerknöchel sind weiß vor Anspannung. Plötzlich spüre ich, wie sich etwas Warmes, Feuchtes über mein Handgelenk ergießt und auf meinen Bademantel tropft. Da begreife ich, dass ich das Weinglas zerdrückt habe. Der Rotwein rinnt auf meinen Bademantel, und wenn der Berberteppich draufgeht, ist es mir auch egal. Georg betrachtet mit zusammengekniffenen Augen die Mondsichel: »Ja, das war die Stunde null. Währenddessen ist das Kerosin weiter angestiegen, Peter und Anna waren tot, und ich wollte auch nur noch sterben. Wir drei waren unzertrennlich gewesen. Ich habe Anna vergöttert und über alles geliebt und Peter auch.«
»Schrecklich«, stoße ich fassungslos hervor. »Einfach schrecklich!«
»Ich weiß nicht, wie lange ich da mehr tot als lebendig in den Trümmern meines Lebens lag. Ich konnte das Kerosin schon schmecken und hoffte immer, ohnmächtig zu werden, aber das geschah nicht.
Das Gefühl, in diesem Flugbenzin ersticken zu müssen, war fürchterlich, aber dass Anna und Peter sich geliebt haben und dass sie ein Kind von ihm erwartet hat, war noch viel schlimmer. In dem Moment wurde mir plötzlich klar, warum sie so aufgekratzt und glücklich gewesen war: Sie hatte es Peter und ihren Eltern gesagt, während ich die Banker in die Schweiz geflogen habe. Alle haben es gewusst, nur ich nicht … zu diesem Zeitpunkt war ich dann bereit zu sterben. Auch auf so eine grauenvolle Art. Ja, ich wollte im Kerosin ersticken. Doch auf einmal spürte ich eine nasse Hundezunge in meinem Gesicht, sah ein Licht aufblitzen und hörte Stimmen … Man hatte wohl einen Suchtrupp losgeschickt.«
Ich muss noch einmal tief durchatmen. Mein Rücken ist verspannt, und meine Beine sind schon lange eingeschlafen.
»Hat deine Schwiegermutter doch die Rettung alarmiert?«
»Ja. Sie dachte, dass Peter und Anna es mir während des Fluges gesagt haben und dass ich uns mit Absicht in den Tod reißen wollte. Da sind sie mit Suchtrupps losgezogen.«
»Und wie haben sie euch gefunden?« Ich halte vor Spannung den Atem an.
»Der Notsender ELT war aktiviert. Jedes Flugzeug hat so einen Crashsender. Wenn ein Flugzeug mit einer höheren Geschwindigkeit aufsetzt als bei einer normalen Landung, wird automatisch ein Notrufsignal an den nächstgelegenen Tower gesendet. Der Sender konnte nur erst nicht geortet werden: Der Suchtrupp hatte die Wälder zunächst vier Stunden zu Fuß durchforsten müssen.«
»So lange hast du mit diesen unvorstellbaren Schmerzen in dem Kerosin gesessen?«, frage ich entsetzt.
»Der schwedische Hundeführer sah, dass die beiden anderen tot waren, und ging erst mal wieder weg. Er hatte dort keinen Empfang für sein Funkgerät. Vielleicht dachte er, dass ich auch tot bin. Aber der Hund, der blieb bei mir …«
Hier bricht Georg wieder ab, und ich sehe, wie er energisch eine Träne wegblinzelt.
»Der Hund hat eine weitere Stunde lang bei mir ausgeharrt und mir immer wieder das Blut vom Gesicht geleckt. Irgendwann kamen über zwanzig Leute mit ein paar Tragen. Da war ja kein Weg und keine Straße, wir waren mitten in der schwedischen Pampa. Sie haben die beiden Toten gleich mitgenommen. Eine Ärztin hat mir erst mal ein paar Spritzen gegeben, Morphium und so. Dann haben sie mich schwankend und stolpernd fast drei Kilometer durch den nassen, nebligen Wald bis zum
Weitere Kostenlose Bücher