Herzschlag der Nacht
nicht immerzu so kleiden. Man kann unbeeinträchtigt gehen und sogar springen. Wie will jemand in mehreren Röcken einer Ziege nachjagen?«
»Gewiss, darüber sollten die Schneider dringend nachdenken«, warf Amelia ein. »Wobei mir eine größere Beweglichkeit eher bei der Jagd nach Kindern zu Nutzen wäre als bei der Jagd nach Ziegen.«
Sie betraten ein Zimmer, von dem aus ein halbrunder Erker in einen Frühlingsgarten führte. Es war ein sehr angenehmer Raum mit einladenden Polstermöbeln, auf denen bestickte Kissen lagen. Ein Hausmädchen war damit beschäftigt, einen Teetisch einzudecken. Christopher bemerkte zwangsläufig, in welch krassem Gegensatz diese anheimelnde Szenerie zum steifen Tee gestern im vornehmen Phelan-Salon stand.
»Leg bitte noch ein Gedeck auf, Tillie«, bat Amelia. »Wir haben einen Gast.«
»Ja, Mum.« Das Hausmädchen blickte ängstlich auf. »Ist die Ziege weg?«
»Ganz und gar weg«, beruhigte Amelia sie. »Bring uns den Tee, wenn er so weit ist.« Amelia sah mit einem amüsierten Stirnrunzeln zu Christopher. »Diese Ziege macht nichts als Ärger. Und die vermaledeite Kreatur ist nicht einmal hübsch anzusehen. Überhaupt sehen Ziegen für mich aus wie schlecht gekleidete Schafe.«
»Das ist schrecklich ungerecht«, widersprach Beatrix. »Ziegen haben viel mehr Charakter und sind intelligenter als Schafe, die nur stumpf dem Leithammel oder sonst wem folgen. Von denen habe ich entschieden zu viele in London gesehen.«
»Schafe?«, fragte Christopher perplex.
»Meine Schwester meint es bildhaft, Captain Phelan«, sagte Amelia.
»Nun, ich habe auch einige echte Schafe in London gesehen«, erklärte Beatrix. »Aber, ja, ich bezog mich hauptsächlich auf Menschen. Sie alle plappern den gleichen Klatsch nach, was müßig ist. Sie gehorchen der gegenwärtigen Mode, schließen sich den beliebtesten Meinungen an, egal wie lachhaft sie sein mögen. Und in ihrer Gesellschaft kann man unmöglich an Reife gewinnen. Im Gegenteil, man ist bald geneigt, sich ihnen anzupassen und mitzublöken.«
Ein leises Lachen ertönte von der Tür, als Cam Rohan das Zimmer betrat. »Wie es scheint, sind Hathaways keine Schafe. Ich nämlich versuche seit Jahren, sie zu hüten, und konnte bislang keinerlei Erfolg vorweisen.«
Soweit Christopher sich entsann, hatte Rohan eine Zeit lang in einem Londoner Casino gearbeitet und dann ein Vermögen mit Investitionen in Fabriken verdient. Obgleich ganz Stony Cross wusste, mit welcher Hingabe er seine Frau und seine Familie liebte, war Rohan kaum das Ebenbild des gesetzten, ehrwürdigen Patriarchen. Sein etwas zu langes schwarzes Haar, die exotisch dunklen Augen und der Diamantstecker in seinem Ohr machten sein Romaerbe allzu offensichtlich.
Er trat auf Christopher zu, beide verneigten sich, und er blickte ihn freundlich an. »Captain Phelan, es ist schön, Sie zu sehen. Wir hatten auf Ihre sichere Rückkehr gehofft.«
»Ich danke Ihnen. Und ich hoffe, dass meine Anwesenheit keine Unannehmlichkeiten verursacht.«
»Nicht im Geringsten. Da Lord Ramsay und seine Frau noch in London sind und mein Bruder Merripen mit seiner Frau nach Irland gereist ist, geht es hier neuerdings viel zu ruhig zu.« Rohan begann zu schmunzeln. »Flüchtige Ziegen ausgenommen.«
Die Damen setzten sich, und Fingerschalen und Servietten wurden gebracht, gefolgt von einem reichhaltig beladenen Teetablett. Als Amelia einschenkte, fiel Christopher auf, dass sie einige zerstoßene grüne Blätter in Beatrix’ Tasse gab.
Amelia entging seine Neugierde nicht, und sie sagte: »Meine Schwester nimmt ihren Tee gern mit Minze gewürzt. Möchten Sie es auch probieren, Captain?«
»Nein, danke, ich …« Seine Stimme versagte, als er zuschaute, wie sie einen Löffel Honig in die Tasse rührte.
»Jeden Morgen und jeden Nachmittag trinke ich frischen Minzetee mit Honig gesüßt …«
Die Erinnerung an Prudence weckte die vertraute Sehnsucht, und Christopher wappnete sich gegen sie. Er zwang sich, ganz auf die jetzige Situation konzentriert zu bleiben, auf diese Menschen.
In der nun eintretenden Pause hörte er Albert draußen bellen. Verärgert fragte Christopher sich, ob der verflixte Hund jemals Ruhe geben würde.
»Er will Sie beschützen«, sagte Beatrix. »Er weiß nicht, wo ich Sie hingebracht habe.«
Christopher stieß einen Seufzer aus. »Ich sollte wohl besser gehen, sonst kläfft er stundenlang.«
»Unsinn. Albert muss lernen, sich Ihren Plänen zu fügen. Ich hole ihn
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