Herzstoss
Treppe.
»Wo wollten Sie heute Morgen eigentlich so eilig hin?«, tarnte Sadie die Frage, die ihr offensichtlich die ganze Zeit auf der Zunge gebrannt hatte, als nachträglichen Gedanken. »Haben Sie Ihre Tochter gefunden?«
Diesmal war es an Marcy, den Kopf zu schütteln. Sie ging schweigend die Treppe hinauf und beschloss, Vic von ihrem Zimmer aus unverzüglich anzurufen. Liam hatte gesagt, dass er im vornehmen Hayfield Manor Hotel ganz in der Nähe wohnte. Sie würde ihn auf seinem Zimmer anrufen, sich überschwänglich dafür entschuldigen, dass sie ein weiteres Mal weggelaufen war, und ihm erzählen, was in Youghal geschehen war. Er würde sie verstehen und ihr ohne Zögern verzeihen. Sie würden sich zum Abendessen verabreden. Er würde bei ihr übernachten, oder vielleicht würde sie diesmal auch mit zu ihm kommen, wo sie die Nacht in Luxus und in seinen wärmenden Armen verbringen würde. Und diesmal würde sie sich nicht in aller Herrgottsfrühe davonschleichen oder ihn, ohne sich zu verabschieden, sitzenlassen. Es war verkehrt gewesen, ihn so rücksichtslos zu behandeln, falsch, ihn auszugrenzen, wo er doch nur helfen wollte. Sie würde es heute Nacht wiedergutmachen, dachte sie, als sie, den Schlüssel in der Hand, entschlossen den Flur hinunter bis zur ihrer Zimmertür marschierte.
Sie musste den Schlüssel mehrmals im Schloss drehen, bis die Tür ihrem Druck plötzlich nachgab. Das Bild, das sich ihren Augen bot, ließ sie erstarren, und sie dachte zunächst, dass sie sich in der Tür geirrt hatte. Das konnte nicht ihr Zimmer sein. »O mein Gott«, keuchte sie, als sie vorsichtig über die Schwelle trat und sich umsah. »O mein Gott«, wiederholte sie lauter und dann: »Nein. Nein.«
Das Zimmer sah aus, als hätte ein verheerender Sturm gewütet. Es herrschte das blanke Chaos. Die Laken waren vom Bett gerissen worden, die Matratze hing schief und aufgeschlitzt über dem Bettrahmen, ihre Füllung auf der Oberfläche verteilt wie sprießendes Unkraut. Jede Schublade war aufgezogen und geleert worden. Der Kleiderschrank war leer, alle Kleider waren von den Bügeln gerupft und auf einen Haufen auf den Boden geworfen worden. Nicht einmal ihre Toilettenartikel waren verschont worden, wie Marcy mit einem Blick ins Bad feststellte. Fläschchen waren zerschlagen, alle Tuben ausgedrückt worden, sogar ihre Zahnbürste war zerbrochen. »Was zum …« Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie an ihr Bett trat und einen Slip zur Hand nahm, der mit einem Messer oder einer Schere vorne aufgeschlitzt worden war. »O Gott«, rief sie mit wachsendem Entsetzen, als sie sah, dass sämtliche ihrer Kleidungsstücke auf irgendeine Weise zerstört oder beschädigt waren: ihre Unterwäsche, ihr Nachthemd, ihre Blusen und Pullover, die schwarze Hose und sogar ihr Trenchcoat. Nichts war der Verstümmelung entkommen. Alles war aufgeschlitzt, zerfetzt und durchlöchert worden. »Nein!«, schrie sie die Blumenmustertapete an. »Nein, nein, nein, nein!«
Sie hörte schwere Schritte auf der Treppe, gefolgt von einem schrillen Schrei. Dann weitere Schritte, leichter und flinker als zuvor. Ein Luftzug in ihrem Rücken, dann hielt irgendjemand den Atem an.
»Mein Gott, was haben Sie getan?«
Marcy fuhr herum, und sah Sadie und Colin Doyle in der Tür stehen. In den Augen der beiden spiegelte sich das Entsetzen über die Szenerie vor ihnen, ihre Gesichter zornesrot und angewidert.
»Was habe ich getan?«, stotterte Marcy. »Glauben Sie, ich war das? Ich bin gerade erst zurückgekommen, Herrgott noch mal. Sie haben mich vor nicht einmal einer Minute durch diese Tür gehen sehen. Glauben Sie, ich hätte überhaupt Zeit gehabt, so ein Chaos anzurichten?«
Sadie Doyle begutachtete schweigend den Flurschaden.
»Würde ich so mit meinen eigenen Sachen umgehen?« Marcy schwenkte einen zerfetzten Slip vor Sadies Gesicht.
Sadie verschränkte die Arme vor der Brust und wich keinen Zentimeter zurück. »Sie sind trotzdem dafür verantwortlich.«
» Ich bin dafür verantwortlich? Wie kommen Sie denn darauf?«
»Sieht so aus, als hätte es Ihrem Freund nicht gefallen, dass Sie heute Morgen so überstürzt weggelaufen sind«, sagte Sadie.
Marcy schossen die Tränen in die Augen. »Er war das nicht«, sagte sie mit zitternder Stimme. Er konnte es nicht gewesen sein, dachte sie.
»Wer dann?«
»Das sollten Sie mir besser sagen.«
»Beschuldigen Sie etwa mich ?«
Marcy blickte von Sadie zu ihrem Sohn.
»Sie glauben, Colin hätte das
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