Herzstück mit Sahne: Roman (German Edition)
wieder über etwas beklagen. Ich werde nie wieder zetern, wenn Ollie seine Socken auf dem Sofa liegen lässt, ich werde nie wieder giftige Bemerkungen über Nina machen oder herumjammern, weil ich keinen flachen Bauch habe. Ich werde alle Schularbeiten anständig korrigieren, netter zu meinen Eltern sein, zur Kirche gehen, nichts Gemeines über Richard denken …
Also rundum ein besserer Mensch werden.
Das ist doch ein brauchbarer Vorschlag, ein fairer Handel.
Ich taste noch mal.
Offenbar nicht.
Der Knoten weicht aus. Er ist schwer zu greifen, aber zweifellos vorhanden. Ich mag eine lebhafte Fantasie haben, doch so weit reicht sie nicht. Wegelagerer und korsetttragende Heldinnen sind eher mein Stil als Ärztedramen. Auf so was steh ich nicht. Fragt Ollie. Er darf sich Krankenhausserien nur angucken, wenn ich nicht im Zimmer bin.
Ich übertreibe also nicht, und ich bin auch nicht hysterisch. Da lauert tatsächlich irgendetwas Fieses unter meiner Haut, ein merkwürdiger kleiner Knoten im Fleisch, der nun abwartet, wie ich auf ihn reagieren werde.
Und was glaubt ihr? Ich habe keinen blassen Schimmer, weil sich das alles nämlich anfühlt, als würde ich es gar nicht erleben. So was passiert nur anderen Menschen. Frauen mit Kahlköpfen und rosa Schleifen. Mutigen Menschen. Alten Menschen. Anderen Menschen.
Ich schaffe es irgendwie, mich anzuziehen, merke aber dann, dass ich mich vorher nicht abgetrocknet habe. Meine Strumpfhose pappt an meinen Beinen, und meine Füße glitschen in den Schuhen herum. Aus meinen Haaren rinnen mir kalte Tropfen in den Nacken. Ohne genau zu wissen, wie ich dort hingekommen bin, stehe ich vor dem Sportzentrum und drücke meine Tasche an die Brust, während Horden von Jugendlichen mit Kapuzenjacken an mir vorbeischießen wie Fischschwärme. Ich müsste ihnen zuschreien, dass sie sich sputen, ihre Sneakers ausziehen und ihre Kaugummis ausspucken sollen; ihr wisst schon, die ganzen wichtigen Dinge, die Lehrer zwischen den Stunden so tun – aber irgendetwas in mir ist zerbrochen. Ich fühle mich wie eine dieser Puppen, die sprechen, wenn man an einer Kordel an ihrem Rücken zieht. Aber diese Kordel ist jetzt gerissen.
Die Welt ist erschüttert worden.
Sie sieht aus wie vorher, fühlt sich aber anders an.
Ich muss mit jemandem reden. Ich muss mit jemandem reden, jemandem, der mich liebt, dem ich wichtig bin.
Wäre Maddy doch noch in Lewisham; sie würde mir literweise Tee kochen und mich mit Keksen vollstopfen. Mads würde nicht in Panik geraten. Sie würde auf Pfarrersfraumodus schalten und alles für mich klären. Bestimmt würde sie jemanden kennen, der das auch durchgemacht und gut überstanden hat, denn Mads ist Optimistin. Während ich Chemotherapie und rosa Schleifen vor Augen habe, würde sie mir nüchterne Statistiken darlegen und mich aufbauen. Andererseits könnte ich jetzt nach Ollie suchen, aber mit ihm möchte ich wirklich nicht über meine Brüste reden.
Ich will mit James sprechen.
Es muss James sein. James kennt meinen Körper in- und auswendig. Er wird wissen, ob da vorher schon ein Knoten war. Wir können doch trotzdem Freunde bleiben, auch wenn wir uns getrennt haben, oder?
Ich suche seine Nummer im Menü und drücke die Ruftaste. Das Telefon klingelt endlos. Irgendwo in der Innenstadt dudelt eine Melodie von Bach jetzt immer hartnäckiger.
»Komm schon«, murmle ich. »Geh ran!«
»Sie haben die Mailbox von …«
Mist. Ich habe in letzter Zeit schon so viele Nachrichten bei dieser höflichen Frauenstimme hinterlassen, dass wir eigentlich per Du sein müssten. Wahrscheinlich stehe ich auf ihrer Weihnachtspost-Liste. Vielleicht ist James zu Hause? Manchmal arbeitet er auch von dort. Vermutlich sitzt er gerade in den Resten seines Büros, die Sasha nicht zerlegt hat. Ich sehe ihn förmlich vor mir, wie er vor dem Computer hockt, wie ein Wilder in die Tasten haut und ein ärgerliches Schnalzen von sich gibt, wenn er gestört wird (meist durch mich). Wie ich James kenne, hat er auch seine Kopfhörer auf und hört sowieso nichts.
Trotzdem kann ich es ja mal probieren. Ich scrolle auf »zu Hause«, was mir einen schmerzhaften Stich versetzt. Da ich jetzt offiziell kein Zuhause mehr habe, muss ich den Eintrag wohl ändern.
»Hallo?«
Eine piepsige, etwas atemlose Frauenstimme.
Ich bin zuerst verdutzt, dann maßlos erleichtert. Scheinbar habe ich versehentlich bei Millward angerufen! Diese atemlose Piepsstimme kenne ich. Sie gehört James’ Assistentin Tilly,
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