Herztod: Thriller (German Edition)
auch Trost fanden. Ihm war das nicht vergönnt.
Er trat seine Zigarette aus und warf den Filter in einen Abfalleimer. Als er sich wieder umdrehte, verließ Judith Kramer gerade das Gebäude. Ihr Haar war kürzer als damals, und sie trug eine Brille, ansonsten erinnerte vieles an die vollschlanke Studentin mit dem runden Gesicht, deren Foto er lange studiert hatte. Er suchte ihren Blick. »Frau Kramer?«
Sie trat durchs Tor und blieb stehen. »Ja?«
Kuse zückte seinen Ausweis und stellte sich vor. »Ich habe ein paar Fragen zu einem viele Jahre zurückliegenden Fall. Hätten Sie vielleicht einige Minuten Zeit für mich?«
Sie zögerte, sah auf die Uhr. »Ehrlich gesagt, bin ich verabredet. Aber …«
»Zehn Minuten, bitte.« Kuse gab sich Mühe, ein gewinnendes Lächeln aufzusetzen. Er wusste, dass er in Sachen Ausstrahlung und Charme nicht gerade in der ersten Liga mitspielte, wie zum Beispiel Florian, aber im Ermittleralltag kam es auf andere Qualitäten an, häufig jedenfalls.
»Um welchen alten Fall geht es denn?«
»Lilly Heinrich.«
Judith Kramer riss die Augen auf. »Was? Ach du liebe Güte. Das ist doch ewig her.«
»Fünf Jahre. Ewigkeit ist was anderes.« Zumindest in meinem Alter.
»Aber …«
»Sie waren damals auch in Lissabon. Ich möchte von Ihnen wissen, wie Sie zu der verunglückten Studentin standen und ob Sie sich genauer entsinnen, was in jener Unglücksnacht geschehen ist«, schob Kuse nach.
Sie verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. Kuse tat so, als bemerkte er nicht, wie unangenehm ihr das Thema war, und blickte auf die andere Straßenseite. »Da drüben ist eine kleine Konditorei. Ich lade Sie zu Kaffee und Kuchen ein, okay?«
»Ich bin gerade auf Diät.«
»Dann nehmen Sie ein Stück Obstkuchen.« Er lächelte. Zu spät fiel ihm ein, dass Florian an dieser Stelle sicherlich schlagfertiger reagiert hätte – Diät? Sie? Aber ich bitte Sie! »Diäten sind ungesund«, besserte er mit leisem Räuspern nach.
»Na schön.« Judith Kramer seufzte zustimmend. Wenige Minuten später servierte die Kellnerin zwei Tassen Kaffee und Torte für Kuse sowie einen Obstsalat für die Exstudentin.
»Erzählen Sie mal ein bisschen – was für eine Frau war Lilly Heinrich?«, fragte Kuse schließlich.
»Ich möchte zunächst wissen, ob das eine offizielle Ermittlung ist und warum Sie meine Aussage benötigen«, entgegnete sie energisch und schaufelte einen großen Löffel Obstsalat in den Mund.
Kuse winkte ab. »Es geht um eine Parallele zu einem anderen Fall. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen. Und offiziell wird das nur, wenn Sie Ihre Aussage zu Protokoll geben und das dann unterschreiben. Ich recherchiere quasi ein bisschen im Umfeld, und ob daraus eine Spur wird, steht in den Sternen.«
Das schien die Lehrerin zu beruhigen. »Nun gut. Es ist lange her, und dieser Unfall war … scheußlich.« Sie schüttelte den Kopf. »So möchte wohl niemand sterben.« Sie brach ab und trank einen Schluck Kaffee. »Lilly war keine Freundinvon mir. Wir besuchten lediglich einige Seminare gemeinsam, zufällig.«
Kuse streckte seine langen Beine unter dem Tisch aus. »Sie mochten sie nicht, stimmt’s?«
»Na ja …«
»Man muss nicht jeden mögen, nur weil er auf tragische oder besonders grausame Weise ums Leben gekommen ist. Da gibt es einige Kandidaten in der Weltgeschichte, die mir trotzdem nicht ans Herz gewachsen sind.«
Judith Kramer lächelte. »In der Tat.«
»Und? Was für ein Typ Frau war sie?«
Kramer sah kurz zum Fenster hinaus. Dann blickte sie Kuse direkt ins Gesicht. Ihr Lächeln war verblasst, und sie gab sich einen Ruck. »Wenn Sie es genau wissen wollen: Sie war ein Miststück.«
»Womit hat sie diese Beschreibung verdient?«
»Sie hat sich an jeden rangemacht, den sie kriegen konnte.«
»Wir reden von Sex?«
»Natürlich. Heute gibt es diesen Spruch: Wer bei drei nicht auf den Bäumen ist … und so weiter. So ein Typ war Lilly. Außerdem war sie bi. Sie schlief mit jedem und jeder, und sie war stolz darauf. Es interessierte sie auch nicht, ob jemand gebunden war und Beziehungen zu Bruch gingen.«
»Ein Flittchen also?« Die den Tod verdient hat, überlegte er im Stillen.
Judith Kramer schloss kurz die Augen. »Das haben Sie gesagt. Und bevor Sie merkwürdige Schlussfolgerungen ziehen – ich war zum Zeitpunkt des Geschehens noch gar nicht im Hotel. Das dürfte auch in der Akte stehen.«
»Das steht da, und darauf will ich auch gar nicht hinaus.« Kuse
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