Hetzer & Kruse 03 - Schattengift
verdrängen konnte, indem er sein Leben auf zwei Zeitebenen organisierte. Es gab das eine in Norddeutschland und das andere in Bayern. Im Norden hatte er ein Haus und eine Ehefrau, einen Hund und Freunde, mit denen er sich gerne traf.
Hier unten im Süden hatte er das Laster. Das Laster hieß Sven und war sein Geheimnis.
Er hatte ihn im Betrieb kennengelernt, als Sven sein Studienpraktikum absolvierte. Der Zufall oder Fortuna hatte es bestimmt, dass die sich beiden nach Feierabend auf eine Maß im Biergarten getroffen hatten und aneinander hängen geblieben waren. Thomas’ Weltbild war aus den Fugen geraten. Er hatte sich im Vorfeld nicht erklären können, warum er sich in Gegenwart des jungen Mannes so wohlgefühlt hatte. Auch hatte ihn dessen durchtrainierter Körper zu sündigen Gedanken verleitet. Er kannte sich selbst nicht wieder.
Hatte sich immer für heterosexuell gehalten. Zu Selbststudienzwecken hatte er sich ein Pornoheft mit nackten Frauen gekauft und stellte beim Studieren der Bilder fest, dass ihn Körper mit Brüsten ebenso erregten.
Wie musste ein vollkommener Mensch sein, fragte er sich, der gleichzeitig über all das verfügte, was ihn zum Beben brachte. Ein Shemale? Oder war alles in einem zu viel? Würde es ihn verlocken, sich mit einem Paar zu treffen? Er wusste es nicht. Seine Gedanken waren bei Sven, und das hatte nicht nur mit Lust zu tun, sondern mit der Nähe, der Geborgenheit, die sich in ihm ausbreitete, wenn beide zusammen waren. Zunächst war er verwirrt gewesen, dass er so fühlte. An den Wochenenden kämpfte er mit der Sehnsucht nach Sven, während der Woche dachte er an Marie-Sophie.
Hin- und hergerissen kam er sich vor, bis er entdeckte, dass er beides zugleich gut leben konnte.
Trotz seiner tiefen Empfindungen war es am Anfang komisch gewesen, als Sven im Dunklen zum ersten Mal seine Hand genommen hatte. Er selbst hätte sich nie getraut, den ersten Schritt zu tun. Es wäre sein Geheimnis geblieben, denn niemals hätte er sich von allein dem anderen offenbart.
Doch Sven, der an Frauen nicht interessiert war, hatte keine Hemmungen gehabt, seine Gefühle zu zeigen. Thomas wusste es noch wie heute, wie er zuerst zusammengezuckt und dann wie in Trance weitergegangen war, nicht wissend, was auf ihn zukommen würde. Ahnungslos wie ein Teenager ging er mit dem anderen mit, der ihn in eine neue Welt eintreten ließ, die für ihn zum Paralleluniversum wurde.
Drei Wochen zuvor
Mit gemischten Gefühlen fuhr Marie-Sophie zum Sommerfest der Praxis. Sie freute sich zwar auf Leslie und die Frau von Dr. Wiebking, aber sie hätte durchaus darauf verzichten können, Anke in ihrer Freizeit zu treffen. Die Aversion, die ihr ihre Kollegin entgegenbrachte, war nicht mehr zu leugnen. Wenn sie auch zwischendurch gedacht hatte, dass es andere Gründe geben mochte, die zu Ankes verändertem Verhalten geführt hatten, so musste sie doch mittlerweile erkennen, dass sie selbst die Wurzel allen Übels war. Nur weshalb, wusste sie nicht. Der Graben zwischen ihnen war unüberwindbar geworden. Marie-Sophie versuchte, ihr nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen.
Es wäre kein Problem gewesen, wenn sich beide einfach in Ruhe gelassen hätten, aber Anke hatte eine perfide Freude daran gefunden, sie lächerlich zu machen oder ihr zu schaden. Wo früher manchmal ein Lachen über die Praxisflure wehte, herrschte jetzt Schweigen.
Für Marie-Sophie wäre es keine Alternative gewesen, an diesem Tag unter einem Vorwand zu Hause zu bleiben. Immerhin waren so viele Menschen da, dass es immer jemanden geben würde, mit dem sie sprechen konnte.
Als sie auf dem Parkplatz hinter der Praxis ankam, stellte sie erfreut fest, dass ihre Widersacherin noch nicht zugegen war. Sie atmete auf. Gemeinsam mit Leslie und Caro aus der Röntgenabteilung ließ sie sich ihr erstes Stück Grillfleisch schmecken. Der Abend schien doch entspannt zu verlaufen. Keine Spur von Anke.
Sie hatte die Frau von Dr. Wiebking schon begrüßt, aber die war immer im Gespräch mit jemand anderem. Es würde sich später schon eine Gelegenheit ergeben.
Mit einem Mal schlug die Stimmung um. Anke Wichtig trat auf den Parkplatz wie eine Erscheinung.
Mit ihrem Wesen nahm sie alles in Beschlag, stülpte sich selbst über die Menge der Leute, bis alles fast wie vorher weiterging. Aber nur fast. Manche Gespräche wurden gedämpfter, andere verstummten.
Noch bevor Marie-Sophie überhaupt die Gelegenheit wahrnehmen konnte, mit Marion Wiebking zu sprechen,
Weitere Kostenlose Bücher