Heute morgen und fuer immer - Roman
auffliegen!«
Wahnsinn, eigentlich hatte ich mir Frauen, die solche Dinge taten und sagten, immer groß, imposant mit ausgeprägter Nase vorgestellt, die bereits den Raum einnahmen, wenn sie nur eintraten, aber doch nicht so ein kleines zierliches Hascherl, das aussah wie zwanzig. Mir schien, ich musste noch viel lernen, vor allem musste ich aber endlich hier weg. Unter dem Vorwand, üben zu müssen, seilte ich mich ab, rief Helene an, verabredete mich mit ihr im Müllerschen Volksbad, um mir alles von der Seele zu schwimmen. Stress gehört in die Beine, hatte meine Mama immer gesagt.
Kapitel 11
Lehrjahre sind keine Herrenjahre!
»Frau Herbst, würden Sie mir bitte folgen?« Frau Wieses Assistentin ging den dunklen Gang zum kleinen Konzertsaal vor, in dem Professor Bruckner, Professor Wiese und der Leiter des Konservatoriums Professor Wagner in der zweiten Zuschauerreihe saßen, mit Leselampen auf den kleinen Tischen, ausgerüstet mit Papier und Stiften. Auf der Bühne stand der Steinway mit zwei Schemeln, einen für mich und einen für Richard, meinen Studenten. Der Flügel war angestrahlt, und das Scheinwerferlicht ließ einen kaum das Gremium im Zuschauerraum erblicken, sobald man Platz genommen hatte. Lampenfieber hatte ich bekanntlich bei jedem Auftritt. Heute aber ging es um meine Zukunft und darum, ob ich endlich sesshaft werden konnte und die Koffer erst mal in den Keller räumen durfte. Die letzte Runde im Bewerbungszirkus war eingeläutet, wie vorausgesehen waren nur noch Amelie und ich im Rennen. Die Entscheidung würde im Anschluss an die Lehrprobe und ein letztes Interview fallen. Ich spürte einen Kloß im Hals. Ich brauchte diesen Job, ich wollte und konnte nicht mehr auf Konzertreisen gehen. Meine Familie brauchte mich, und ich brauchte ein Zuhause und eine Chance, endlich eine Beziehung führen und eine Familie gründen zu können. Vor allem aber brauchte eine diesen Job nicht, und das war Amelie. Sie würde als Frau Dr. Schleimiger bald nur noch auf gesellschaftlichen Anlässen klimpern, um die Geschäftsfreunde ihres Toupetverlobten zu beeindrucken und ansonsten die nächsten Jahre Kinderwagen schieben. Um die Stelle bewarb sie sich nur, weil das besser klang, ich war mir sicher, dass sie nicht weiterarbeiten würde, sobald das erste Kind da war.
»Hallo Clara, wollen wir gleich mit der Lehrprobe anfangen?« Professor Bruckner nickte mir aufmunternd zu. Richard, mein Probestudent, der auf seinem Schemel Platz genommen hatte, ebenfalls. Richard war ein Schatz, begabt, freundlich, mit rascher Auffassungsgabe, ein Jackpot für solch eine Lehrprobe. Wir schlugen die Noten zu Schuberts »Träumerei« aus den Kinderszenen auf. Richard spielte das technisch leichte Stück vor, während ich die Augen schloss, um mich besser auf die Musik konzentrieren zu können. Ja, der Satz war technisch perfekt gespielt, die Anforderung lag bei diesem Stück, das wirklich jeder kannte, darin, etwas Neues aus dem Bekannten herauszukitzeln. Beim Tempo, bei den Übergängen der rechten und linken Hand, dem Wechsel vom Piano ins Forte war es ausbaufähig und noch nicht rund. Als der letzte Ton verklungen war, öffnete ich wieder die Augen.
»Sehr schön!« Motivierend lächelte ich Richard an.
»Technisch perfekt gespielt, das Handwerk sitzt einwandfrei. Wollen wir jetzt am Ausdruck arbeiten? Wie siehst du das Stück denn, was bedeutet es für dich, und was willst du damit aussagen?«
Richard sah mich erstaunt an, als ob er zum ersten Mal darüber nachdachte, was er ausdrücken wollte. Bislang versuchte er, wie mir schien, vor allem fehlerfrei zu spielen, und imitierte die Version, die Helene Grimaud erfolgreich zum Besten gegeben hatte.
»Ich glaube, Schumann wollte mit dem Stück seiner Sehnsucht nach der Kindheit Ausdruck verleihen!«
Richard war noch zu sehr im Lehrer-Schüler-Modus und nicht auf dem Weg, seinen ganz persönlichen Zugang zu der Musik zu finden. Ich war nicht Günther Jauch, und es gab auch keine Million für die richtige Antwort. Denn richtig gab es hier nicht, nur subjektiv. Das versuchte ich, aus Richard herauszukitzeln.
»Lass mal alles außer Acht, was du über das Stück gehört oder gelernt hast. Stell dir vor, du hörst es zum ersten Mal ... Oder kannst du dich noch daran erinnern, was es bei dir ausgelöst hat, als du es zum ersten Mal gehört hast?«
Richard überlegte, seine Augen blickten konzentriert in die Leere. »Soll ich es wirklich sagen? Das klingt vielleicht verrückt,
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