Hexenerbe
ungläubigem Entsetzen, drückte sein Kind fest an sich und schrie nach seiner Frau, während das Wasser alles auf seinem Weg verschlang und sich dann in alle Richtungen ausbreitete wie gierige, erbarmungslose Tentakel. Dächer ragten aus der tosenden Flut auf und verschwanden darin. Ganze Wäldchen wurden die Hügelflanke hinabgerissen und gegen die Gebäude geschleudert.
Die reglosen Körper von Menschen und Tieren trieben wie Korken auf dem Wasser.
»Claire! Claire!«
Er bemerkte nicht, dass seine kleine Tochter die Augen vor diesem Grauen verschloss, weil die Welt in ihrem Innern sich mit seltsamem grauem Nebel füllte, in dem ein Bild erschien: ein Schiff mit vom Wind geblähten Segeln, und ein kleines Mädchen ...
Sie sieht ja aus wie ich!
... stürzte über die Reling ins Meer.
Eine kreischende Frau auf dem Deck wurde von mehreren Seeleuten festgehalten. Sie versuchte sich loszureißen, um dem kleinen Mädchen nachzuspringen.
Der Nebel wallte auf, wurde dichter und lichtete sich wieder, und Ginny hörte die Gedanken dieser Frau, als stünde sie direkt neben ihr:
Jetzt sind wir nur noch zu dritt, wir »Cathers«. Ich habe keine Tochter, die unsere Linie fortsetzen könnte, doch die Jungen haben zumindest etwas magische Begabung. Womöglich ist es besser so. Vielleicht will die Göttin mir damit bedeuten, dass das Haus Cahors nun wahrhaftig untergegangen ist ... und dass die Magie mit mir sterben sollte.
Dann liefen zwei kleine Jungen zu ihr, sie schrien und schlangen die Arme um ihre Knie und ihre Taille. Der Kleinere von beiden starrte Ginny direkt in die Augen. Im Geiste sah sie, wie er den Mund öffnete, und dann sagte er mit einer unheimlichen, unirdischen Stimme: »Virginia, ich bin dein Vorfahre.«
Da riss Ginny die Augen auf, ihre kleine Kinderhand krallte sich in das Haar ihres Vaters, und sie begrub das Gesicht an seiner Schulter und schluchzte: »Papa, Papa, die Frau macht mir Angst!«
Und dann sah die kleine Ginny noch etwas. Es war ein Brief, und darin stand:
Hannah, meine geliebte Frau,
Du sollst wissen, dass wir damals in Salem nicht alle gehängt haben. Manche - ich schäme mich so, das einzugestehen - unterzogen wir auch dem Hexenbad, wie es in der Alten Welt üblich war.
Das bedeutet, wir fesselten diese armen Frauen an Tauchstühle und ließen sie in den Fluss hinab. Gingen sie unter, so erklärten wir sie für unschuldig. Damit will ich sagen, falls sie ertranken, vertrauten wir ihre Seelen dem Herrgott an ...
Und dann zeigte uns Abigail Cathers wahrhaftiges Hexenwerk, und ich musste erkennen, dass wir unschuldige Frauen ermordet hatten, die so wenig von Hexerei wussten wie du und ich.
Gott sei mir gnädig. Ich ertrage diese Schuld nicht länger.
Adieu.
Jonathan Corwin
Dann sah Ginny ihre eigene Mutter in einem Raum voller Wasser zwischen vielen Stühlen und einem Tisch treiben. Ihre Augen waren offen, und ihr Haar war unter Wasser um ihren Kopf ausgebreitet wie ein Heiligenschein.
Ginny brach in Tränen aus und stöhnte: »Mama ist ertrunken, Papa. Sie ist ertrunken!«
Es hieß, in Johnstown seien Tausende ums Leben gekommen. Obgleich Claire Cathers' Leichnam nie gefunden wurde, erklärte man sie für tot, und Peter Cathers beschloss, in den Westen zu gehen, seine kleine Tochter von den Ruinen der tödlichen Flut fortzubringen und sich in der trockensten Gegend niederzulassen, die er finden konnte.
Ginny sprach nie wieder von den Dingen, die sie an jenem Tag gesehen hatte, und mit der Zeit vergaß sie sie.
Es stellte sich heraus, dass in Kalifornien kein Vermögen zu machen war. Also zogen Vater und Tochter gen Norden, nach Seattle, weil sie gehört hatten, die Gegend sei reich an allem außer Menschen.
Sie beluden einen Wagen mit ihren Habseligkeiten, hauptsächlich Bergmannswerkzeug, das sie nicht mehr brauchten, denn für sie hatte es in Kalifornien kein Gold gegeben. Sie begannen die lange Reise in den Pazifischen Nordwesten. Ginny war inzwischen fast neun Jahre alt und galt bei allen, die sie kannten, als sehr verständig und scharfsinnig und als kleine Schönheit obendrein.
Als sie eines Abends an einem großen Lagerplatz haltmachten, wo es Eintopf mit echtem Rindfleisch und Kartoffeln, Zwiebeln und Karotten gab, sprachen die derben Männer dort von einem Dr. Deveroo. Es hieß, dass seine Elixiere alles heilten, was einen Menschen nur plagen konnte.
»Er kommt heute Abend hierher und gibt eine seiner Vorstellungen«, erzählte einer der Goldgräber Peter,
Weitere Kostenlose Bücher