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Hexengold

Hexengold

Titel: Hexengold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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sein, wieder unbemerkt aus dem Raum zu verschwinden. Den Wartenden vor der Tür würde sie die Flucht gut erklären können. Die Klinke senkte sich, doch etwas hielt sie zurück.
    Wieder blickte sie zu der Gebärenden. Mehrere Leuchter tauchten sie in ein unstetes, gelbrotes Licht. Der halb entblößte Leib glänzte schweißnass, das lange, blonde Haar hing in wirren Strähnen um den Kopf. Halb hockte sie, halb stand sie auf dem Gebärstuhl am Fußende des ausladenden Bettes. Die Hände auf die Oberschenkel gestützt presste sie die Lippen fest aufeinander und hob und senkte sich in einem regelmäßigen Rhythmus. Wenn sie innehielt, entwichen ihr klägliche Seufzer. Die ließen erahnen, dass auch die seltsamen Laute, die Adelaide über Stunden beunruhigt hatten, allesamt von ihr stammten. Durch die geöffneten Fenster waren sie bis ins Nachbarhaus gedrungen. Adelaide ertappte sich dabei, wie sie den Rücken gegen die Tür lehnte und daran im selben Rhythmus hinauf- und hinunterfuhr wie die andere Frau. Vielleicht half es ihr, mitzuerleben, wie es bei dieser Frau mit der Niederkunft zu einem guten Ende kam. Vielleicht verjagte das ein für alle Mal ihre schrecklichen Alpträume. Also blieb sie.
    Die Hebamme auf der linken Seite der Gebärenden war eine aufgedunsene Frau mittleren Alters. Die blaurot geäderte Knollennase und die glasigen Augen verrieten, wie gern sie zum Branntwein griff. Bei jeder Kopfbewegung schwabbelten die fleischigen Wangen. Ihre Bewegungen wirkten flatterhaft, vermutlich lechzte sie nach einem Schluck Branntwein. Kaum gelang es ihr, die Gebärende ruhig zu halten. Eine zweite Frau stützte die Patientin auf der anderen Seite. Von ihr erspähte Adelaide vorerst nicht mehr als einen breiten Rücken und ein noch breiteres Becken, beides eingepackt in grau verwaschenes Leinen. Im Chor befahlen sie der sich mühsam Abarbeitenden in ihrer Mitte: »Weiter, weiter! Nicht aufgeben!« Adelaide wusste von allen Frauen im Raum wahrscheinlich am besten, wie vergebens diese Ermunterungen waren. Die Gebärende war am Ende ihrer Kraft, jeder Funken selbständigen Lebens in dem schweren Leib war erloschen. Mechanisch befolgte sie zwar noch die Aufforderungen der anderen, hatte selbst allerdings jeden Willen verloren, das Geschehen voranzutreiben.
    Plötzlich bäumte sich ihr Körper auf. Das angestrengte Pressen drückte die Augen regelrecht aus dem Kopf, verzerrte das Gesicht zu einer schmerzvollen Maske. Das Gesäß vom Gebärstuhl gehoben, die Fäuste auf den Schenkeln zusammengekrallt, verharrte die Frau halb in der Luft. »Iaaaah!« Ein herzzerreißender Laut entwich ihrem Mund. Im nächsten Augenblick klappte sie wie ein Sack Mehl in sich zusammen. Als sie auf dem Boden aufschlug, gab es einen dumpfen Laut. Die Hebamme und die Helferin schrien gleichzeitig los, vermochten die Frau aber nicht mehr zu halten. Adelaide schlug die Hände vors Gesicht. Ihr langer, schlanker Leib zitterte von den Haarspitzen bis zu den Fußsohlen.
    Nach einer halben Ewigkeit erst wagte sie zwischen den Fingern hindurchzublinzeln. Magdalena und Carlotta standen nun neben dem Gebärstuhl. Ein Blick der zierlichen Base genügte, und die Hebamme samt Helferin trat beiseite. Stumm verfolgten sie gemeinsam mit Adelaide aus sicherer Entfernung, was weiter geschah.
    Carlotta half ihrer Mutter, die leblose Gestalt zu ihren Füßen auf den Rücken zu drehen. Einem gewaltigen Berg gleich, ragte der dicke Bauch empor. Die Haut war durchzogen von blauen Adern und schien zum Zerreißen gespannt. Geschickt winkelte das Mädchen die Beine der Frau an, bettete kurz darauf den Kopf der Ärmsten in ihren Schoß. In beruhigenden Worten sprach Carlotta auf sie ein. Dabei strich sie ihr mit den kleinen Händen die schweißverklebten Haare aus dem Gesicht. Adelaide traute ihren Augen kaum. Es dauerte nicht lang, und die Frau schlug die Augen auf, lächelte gar, als sie das Mädchen erblickte. Gleichzeitig kehrte das Leben in den gebeutelten Leib zurück. Ein Zucken und Zittern durchlief ihn. Carlotta wiederholte ihre beruhigenden Worte und sorgte damit abermals für Entspannung. Adelaide richtete sich auf. Auch sie fühlte sich wieder besser bei Kräften. Die furchtbaren Erinnerungen waren wie weggeblasen. Hätte ihr jemand erzählt, was sie gerade erlebte, sie hätte ihn ausgelacht. Woher um alles in der Welt nahm eine Dreizehnjährige nicht nur das Wissen, sondern auch die Fähigkeit, einer Gebärenden derart beizustehen? Jäh schoss ihr ein

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