Hexenheide
Lehrer macht eine besänftigende Handbewegung. »Ich habe Frau Hendriks extra gefragt, ob sie etwas über die Alberdine heraussuchen kann, von der wir gesprochen hatten. Sie konnte mir zumindest die Auskunft geben, dass in jedem Fall irgendwann eine Frau mit diesem Namen aus dem Dorf verjagt worden ist. Tatsächlich wegen Hexerei. Wahrscheinlich hatte es jemand auf ihr Land abgesehen oder ihr Haus oder ihre Besitztümer. Ihr gehörte ohne Zweifel etwas, was jemand anderes haben wollte, oder aber sie hatte ein paar Eigenschaften, die die Leute nicht so besonders mochten. Ein paar Verdächtigungen, und man sah besser zu, dass man wegkam, bevor man sich auf dem Scheiterhaufen wiederfand.«
»Hatte sie weiße Haare?«, platzt es aus Karim heraus.
Herr Paul hebt die Augenbrauen.
»Na ja … weil … Sie haben doch gesagt, dass ihr Name etwas mit weiß bedeutet, oder?«
»Ich weiß nicht, ob sie dergleichen Banalitäten in den Annalen verzeichnet haben, Karim.«
»Hä?«
»Ich glaube nicht, dass auch aufgeschrieben ist, welche Farbe ihre Haare hatten.« Der Lehrer lächelt. »V ielleicht kann ich dir am Montag ein bisschen mehr erzählen.«
Karim sitzt bei Lenne am Küchentisch. Lennes Mutter ist noch nicht zu Hause, und ihr Vater sitzt wie immer oben vor seinem Computer. Lenne und Karim trinken jeder ein großes Glas Cola. Die Keksdose haben sie schon fast zur Hälfte leer gefuttert.
»Glaubst du, dass wir über diese Alberdine noch mehr zu hören kriegen?«, fragt Karim.
Lenne knabbert bedächtig an ihrem Keks. »Du denkst an die Frau, die an der Mühle war, oder?«
Karim wischt ein paar Krümel vom Tisch. Er schweigt.
»Wie soll das denn gehen, du Dummkopf. Die Geschichte handelt von etwas, das vor Hunderten von Jahren passiert ist«, sagt Lenne, doch ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen, als ob sie sich da nicht mehr so sicher wäre.
»Im einen Moment war sie da, im nächsten verschwunden«, erinnert Karim sie. »V iel zu schnell für einen normalen Menschen.«
Lennes Stimme wird noch leiser. »Glaubst du, dass es Hexen gibt?«
»Echte Hexen, meinst du? Mit Besenstiel und so?«, versucht Karim zu witzeln.
Lenne schüttelt den Kopf.
Karim nimmt sich noch einen Keks aus der Dose. »Lenne … was ist deine Lieblingsfarbe?«
Lenne macht ein verwundertes Gesicht. »Gelb«, sagt sie dann.
»Und du magst Blumen?«
»Na ja, geht so. Warum fragst du das?«
Karim kaut ein Weilchen auf seiner Unterlippe. »Glaubst du, dass die Frau etwas von dir gewollt hat?«
Lenne rutscht sich ein wenig auf ihrem Stuhl zurück und zieht die Schultern abwehrend hoch.
Karim holt tief Luft. »Du wolltest doch mit ihr mitgehen.«
»Natürlich. Ich war neugierig. Du doch auch, oder?«
»Ich wollte einfach nur so schnell wie möglich von ihr weg!«, hält Karim entgegen. »Du nicht.« Er zögert etwas, weil er nicht die richtigen Worte für das findet, was er sagen will. »Es hat so gewirkt, als wärst du am liebsten sofort mit ihr mitgegangen, wenn ich nicht da gewesen wäre und deine Hand festgehalten hätte.«
Lennes Augen verfinsterten sich. »Ich geh wirklich nicht so mir nichts dir nichts mit einer wildfremden alten Frau mit!«
»Sie war nicht alt«, murmelt Karim. »Hast du ihr Gesicht gesehen? Keine Runzeln, nur die Narbe.« Er schluckt seinen letzten Bissen Keks runter. Ein bisschen davon bleibt ihm in der Kehle stecken. Er hustet und spricht mit rauer Stimme weiter: »Als hätte sie irgendwann einmal kämpfen müssen oder so.«
»Um sich zu verteidigen?«
»Um flüchten zu können.«
»Weil sie verfolgt wurde …«
»Weil sie für eine Hexe gehalten wurde.« Karims Worte und die von Lenne ergänzen sich mühelos. Offenbar haben sie schon die ganze Zeit dieselben Gedanken gehabt.
Mit einer ungeduldigen Bewegung greift Lenne zu der Flasche Cola auf dem Tisch und gießt sich ihr Glas noch einmal voll. »Lächerlich! Solche Dinge gibt es nicht. Karim, man muss uns doch nur mal zuhören, meine ich. Worüber reden wir denn jetzt eigentlich?«
»Über gar nichts«, stimmt Karim sofort zu. »Unsinn. Quatsch. Gelaber. Wer hat damit angefangen?«
»Du.«
»Oh …«
»Wollen wir an den Computer gehen?«
»Ist wahrscheinlich besser.«
Aber es scheint unmöglich, nicht mehr an die weißhaarige Frau und an Hexen auf der Heide zu denken, trotz des spannenden Computerspiels.
»Weißt du«, fängt Karim nach einer Weile wieder an, »ich muss dauernd an Jorinde denken.« Er schiebt die Maus weg. Das Männchen auf
Weitere Kostenlose Bücher