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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Friedhof, auf dem Hunderte kleine rote Lichter flackerten, und das stockdunkle Haus des Pfarrers hinter sich. Im ersten Stock stand ein Fenster offen und schlug im Wind.
    Merkwürdigerweise spürte er nicht die geringste Anstrengung, seine Beine funktionierten von allein, sein Kopf war wie ausgeschaltet.
    In Ambra stürzte er in die Bar und kaufte zwei Flaschen Grappa. Dann ging er durch den Ort und wusste nicht wohin. Schließlich setzte er sich auf die kleine Brücke, sah hinab auf die Ambra, die man eher als Bach, denn als Fluß bezeichnen konnte, und überlegte, was von seinem Leben
noch übrig war. Nirgendwo sah er einen Anfang, sondern nur das Ende. Er hatte es vergeigt.
    Er öffnete die erste Flasche und trank ungefähr ein Drittel in einem Zug.
    Dann starrte er auf das ruhig dahinplätschernde Wasser und ärgerte sich über ein Papiertaschentuch, das in einem Zweig am Ufer hängen geblieben war und im Mondlicht gespenstisch leuchtete.
    Heute war Weihnachten, und die Überraschung war gehörig in die Hose gegangen. Das Papiertaschentuch machte ihn so wütend, dass er Lust hatte, den Nächsten, der über die Brücke kommen würde, zusammenzuschlagen.
    Wäre er bloß in Berlin geblieben. Es war eben nicht alles verkehrt, was Gunda sagte. Er wäre mit ihr essen und ins Bett gegangen, und nichts wäre geschehen. Er hätte nicht gewusst, dass Elisabetta seine Tochter ist und hätte sie weiter geliebt. Zumindest bis zum neuen Jahr, oder noch einige Monate länger, bis er es durch einen blöden Zufall erfahren hätte.
    Drei Autos donnerten über die Brücke und regten Franky dermaßen auf, dass er das nächste Drittel der Flasche trank.
    Sein Handy klingelte.
    »Wo bist du?«, fragte Elsa mit erstickter Stimme. »Bitte, komm zurück. Bitte, lass uns reden. Bitte.«
    »Ich kann nicht«, stöhnte er. »Ich halte das nicht aus.«
    »Wo bist du?«
    »In Ambra.«
    »Dann komme ich zu dir.«
    »Nein.« Plötzlich wurde ihm klar, dass er jetzt schon betrunken war. Er konnte nicht mit ihr reden. Nicht mehr heute.

    »Ich muss dir was sagen, Amadeus.« Sie wollte ihn Franky nennen, aber sie brachte es nicht über die Lippen. Geliebt hatte sie Amadeus.
    »Ja?« Das Handy brannte an seinem Ohr.
    »Ich bin schwanger.«
    Fast hätte er geschrien vor Lachen. Genau, dieser kleine Zusatz hatte noch gefehlt, um die Hiobsbotschaft perfekt zu machen.
    »Du sagst ja gar nichts?«
    »Vor vierundzwanzig Stunden hätte ich mich noch gefreut.«
    Beide schwiegen in der Leitung. Franky trank und bemühte sich, leise zu schlucken.
    Er hörte, dass sie weinte.
    »Elisabetta, bitte …« Er wusste nicht, was er noch sagen sollte, wie er sie trösten konnte.
    »Eigentlich heiße ich Elsa.«
    Das Biest. Das kleine Schreitier, das einen in den Wahnsinn treiben konnte, das er manches Mal am liebsten an die Wand geklatscht hätte, ein Kind, das man im Winter am besten auf den Balkon stellte, die Tür fest verschloss und ins Bett ging, um ein paar Stunden Ruhe zu finden – dieses kleine Ungeheuer war jetzt die Mutter seines Kindes und bettelte um seine Liebe.
    Ein Scheißspiel.
    »Warum hast du mir erzählt, deine Mutter sei tot?«
    »Weil sie für mich gestorben war. Weil sie mich verraten hatte. Ich wollte sie nie wiedersehen.« Elsa schluckte. »Franky?« Zum ersten Mal nannte sie ihn mit diesem Namen.
    »Ja?«

    »Ich wusste nicht, dass du mein Vater bist. Sie hat nie von dir erzählt, und sie hat mir nie ein Foto gezeigt. Sie sagte, dass sie gar keins von dir hat.«
    Sarah hatte ihn totgeschwiegen.
    »Amadeus?«
    »Ja?«
    »Ich … ich …«, sie wollte sagen ›ich liebe dich‹, aber sie brachte es nicht über die Lippen. Es war so absurd in dieser Nacht.
    »Ich weiß, meine Kleine«, meinte er milde. »Ich weiß, was du sagen willst. In Gedanken nehme ich dich in den Arm.«
    »Bitte, komm!«
    »Frohe Weihnachten!«, sagte er und legte auf.
    Zehn Minuten später klingelte sein Handy erneut, aber er ging nicht ran, sondern drückte das Gespräch weg.
    Er brauchte noch genau eine Stunde, um beide Grappaflaschen auszutrinken.
    Um dreiundzwanzig Uhr siebenunddreißig stürzte er von der nur wenige Meter hohen Brücke und lag kopfüber in dem flachen Flussbett, mit dem Gesicht im Wasser, das an dieser Stelle höchstens vierzig Zentimeter tief war. Seine langen, dünnen Haare schwammen auf der Wasseroberfläche und bewegten sich geschmeidig wie die zarten Stängel einer Wasserpflanze im Ozean.
    Er spürte nicht, wie das kalte Wasser der Ambra in

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