Hexenkind
Mutter ist heute Nacht ermordet worden«, sagte Elsa tonlos. »Irgendein Verrückter hat ihr in ihrem einsamen Haus im Wald die Kehle durchgeschnitten.«
Anna war leichenblass und wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Es tut mir leid, Anna, aber ich muss nach Hause.«
Anna nickte. »Ist doch klar.«
Gute Arbeit, Edi, dachte Elsa. Du bist doch der beste Bruder der Welt.
VIERTER TEIL
LA FATALITÀ – DAS VERHÄNGNIS
Toskana, November 2005 – vierzehn Tage nach Sarahs Tod
75
Seit vier Tagen hatte er keine Sonne, keine Wolken, keinen Nebel mehr gesehen, hatte nur das Quietschen der Gummisohlen auf dem Linoleumfußboden, das Knallen der Türen und die blödsinnigen Kommentare seiner Mithäftlinge gehört. Die wenigen Tage Untersuchungshaft kamen Romano vor wie eine halbe Ewigkeit. Er hatte keine Vorstellung, wie er es Wochen, Monate oder Jahre in einer derartigen Zelle aushalten sollte, falls er schuldig gesprochen werden sollte.
In seiner Zelle waren noch drei weitere Männer. Sandro, ein Elektriker aus Arezzo, der eine Achtzigjährige umgebracht und beraubt haben sollte, Massimo, ein Winzer aus Montepulciano, der eine Zweiundzwanzigjährige umgebracht haben sollte, deren Leiche allerdings nie gefunden worden war, und Moscha, ein Albaner, der im Vollrausch seine Frau erschlagen haben sollte. Alle drei behaupteten, unschuldig zu sein, so wie Romano auch. Sandro lag fast den ganzen Tag auf seiner Pritsche und summte vor sich hin. Dabei kaute er an seinen Fingernägeln, die kaum noch zu erahnen und fast vollständig von Nagelhaut zugewuchert waren. Seine Finger wirkten wie dicke kurze Würste, und wegen der fehlenden Fingernägel hatte er oft Schwierigkeiten, kleine Dinge vom Tisch oder Boden aufzuheben.
Neulich verlangte er eine Kopfschmerztablette, wollte aber nur eine halbe nehmen und sich die andere aufsparen. Ohne Daumennagel war es ihm nicht möglich, die Tablette zu zerbrechen. Romano tat es für ihn, obwohl ihm Sandro nicht geheuer war. Noch hatten sie keinen Streit gehabt, aber Sandro machte den Eindruck, als würde er sofort zuschlagen, wenn ihm irgendetwas nicht passte.
Massimo spielte den Sanften und von allen Verkannten. Er behauptete, keiner Fliege etwas zuleide tun zu können, und meinte, durch die fatale Gefangenschaft, in die er durch widrige Umstände geraten sei, werde er auf schicksalhafte Weise zu neuen Erkenntnissen geführt. Die Erfahrungen, die er im Gefängnis machen dürfe, seien für ihn von unschätzbarem Wert. Er gab zu, die Frau, die er ermordet haben sollte, am Tag ihres Verschwindens noch gesehen und sogar mit ihr geschlafen zu haben. Sie hatte ihn besucht, weil sie wusste, dass seine Lebensgefährtin verreist war, und war dann – nachdem sie eine Stunde im Garten und zwei im Bett verbracht hatten – nach Hause gegangen, weil ihr Mann auf sie wartete. Da war sie jedoch nie angekommen. Massimo schwor Stein und Bein, nichts mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben und vollkommen unschuldig zu sein, und er ging davon aus, bald entlassen zu werden, da man ihm ohne Leiche nichts nachweisen konnte.
Massimo schlief unter Romano. Er hatte Romano kampflos die obere Pritsche überlassen, da er sich im Schlaf derart viel hin und her warf, dass er Angst hatte, aus dem Bett zu fallen. Jetzt war Romano seinem schlechten Atem ausgeliefert. Massimo hatte fast nur noch verfaulte Zahnstümpfe im Mund, die einen ekelerregenden Mundgeruch verursachten,
der nachts langsam zu Romano empor stieg und im Lauf der Zeit die gesamte Zelle verpestete.
Romano dachte oft darüber nach, wie die verschwundene Frau wohl seinen fauligen Atem ertragen hatte, als sie mit ihm schlief. Es war ihm vollkommen unvorstellbar.
Moscha war ein armes Schwein. Er war erst seit wenigen Monaten in Italien und sprach kaum Italienisch. Wenn ihn jemand etwas fragte, grinste und nickte er, um keinen Ärger zu bekommen. Er liebte seine Frau und vermisste sie unsagbar. Im Schlaf redete er von ihr und schluchzte ihren Namen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, sie im Suff erschlagen zu haben, allerdings hatte er nicht die geringste Erinnerung an den fraglichen Abend. Ein totales Blackout. Er stand der Anklage völlig hilflos gegenüber und konnte noch nicht einmal seine Unschuld beteuern. Er lag in dem Etagenbett unter Sandro und betete fast den ganzen Tag. Romano ging zumindest davon aus, dass er betete, denn er murmelte vor sich hin. Aber er verstand kein Wort. Ob Moscha nun Allah anrief oder irgendeine andere
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