Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
frei, damit sie sich noch etwas beraten könnten.
Kaum wollte Lucia jetzt vom Podest steigen, schallte abermals Schmalhovers Stimme durch die Halle: "Das habt ihr alles diesem schurkischen Rodder zu verdanken!"
"Wer ist hier der Schurke, wie?", brüllte der Beschuldigte zurück, worauf Schmalhover zwar zusammenfuhr, sich dann aber mit einer niederträchtigen Behauptung wehrte:
"Dass ihr es nur alle wisst, dieser Betrüger hat sich kurz nach Weihnachten an der Geldreserve des Betriebes vergriffen!"
Darauf war es totenstill in der Halle. Keiner brachte einen Ton hervor, selbst Meister Rodder war ob dieser Anschuldigung verstummt. Lucia ebenfalls. Doch als sie sich gewaltsam wieder gefasst hatte, verteidigte sie ihren Vater: "Man kann Meister Rodder einiges vorwerfen, nicht aber Diebstahl. Das weiß jeder, der ihn kennt." Dann legte sie Schärfe in ihre Stimme: "Das war eine hinterlistige Unterstellung, Herr Schmalhover, für die ich Euch auf der Stelle entlasse."
Er versuchte, sich zu retten: "So doch nicht, doch Diebstahl hab ich doch nicht . ."
"Raus mit Euch!", unterband Lucia sein Gestammel und wies Herrn Hoyer und einen ihrer Schreiber an, diesen Verleumder in sein Kontor zu befördern, wo er seine persönlichen Sachen einpacken und dann für immer den Bellwillhügel zu verlassen habe.
Die beiden Aufgeforderten ergriffen darauf Schmalhover so hart rechts und links an den Armen, dass nicht zu unterscheiden war, ob es Flüche oder Schmerzlaute waren, die er ausstieß.
Erst als ein Lagerist das Tor hinter den Dreien geschlossen hatte und dann Schmalhovers Gejaule verhallt war, bekamen Vereinzelte in der Halle ihren Mund wieder auf. Lucia nicht, sie stand stumm und wie festgenagelt auf ihrem Podest. Bis Herr Adam zu ihr trat und ihr die Hand reichte: "Kommt, Fräulein."
Mit zittrigen Beinen stieg sie hinab, wonach ihr Herr Adam wortlos ihren Biberpelz über die Schultern legte. Anschließend führte er sie den heute noch schmaleren Weg durch die lange Halle bis zum hinteren Ende und öffnete ihr die Tür nach draußen.
Von da an schlug sie, noch immer am ganzen Leib zitternd, durch den inzwischen dicht fallenden Schnee den Weg zum Bellwillhaus ein.
Plötzlich war Justus an ihrer Seite und schob ihren Arm in seinen. Ihr war es angenehm, geführt zu werden, und sie staunte, welche Kraft ihr Justus' junger Arm bot. Um seine Schwester aufzumuntern, äußerte er, sie habe soeben eine saftige Figur abgegeben, ehrlich, wie eine Diana, das sei flitzesteil gewesen! Wie sie aber über seine Anerkennung nur mühsam lächeln konnte, wurde er zurückhaltend, sprach nur noch von den weich fallenden Schneeflocken, die sie doch so möge, und da sie auch darauf kaum einging, verstummte er ganz.
Lucia war erschöpft, doch andererseits auch erleichtert, denn heute hatte sie alles in allem mehr erreicht, als sie vordem hatte ahnen können.
In ihrer Guten Stube versuchte sie, sich von dem soeben Erlebten zu befreien, doch die Eindrücke saßen zu tief. Immer wieder gerieten ihr Bilder von dieser abscheulichen Szene mit Schmalhover vor Augen, sie sah seinen falschen Blick, hörte seine gehässige Anschuldigung und fühlte ihrem Vater seine sprachlose Empörung nach. Um sich von diesen Eindrücken zu befreien, hielt sie sich die Hände an die Ohren und drückte fest die Augen zu. Was natürlich nicht helfen konnte, da sie die Bilder innerlich wahrnahm. Deshalb tat sie schließlich das einzig Richtige, sie setzte sich entspannt auf ihrem Stuhl zurecht, schloss die Augen und gewährte diesen aufdringlichen Eindrücken freien Lauf.
Dadurch offenbarte sich ihr bald Überraschendes. Mit ihrem geistigen Auge sah sie ihren Vater und Schmalhover in einem Gespräch. Schmalhover war schweflig gelb, die Falschheit selbst, und so auch seine Worte, die er ihrem Vater einsäuselte. Er wollte ihn dazu überreden, die Zahlungen an diejenigen, die sie eingestellt hatten und nun wieder entlassen mussten, aus der Betriebsreserve zu leisten, zu der Meister Rodder ja sicher noch Zugang habe. Meister Rodder hörte zunächst begriffsstutzig zu, als Schmalhover jedoch deutlicher wurde, wallte feuerrote Empörung in ihm auf, er packte ihn bei den Schultern, rüttelte ihn, seine Zornesflammen schienen Schmalhover zu versengen. - Dann verblasste das Bild. Lucia sah nichts mehr, und in ihrem Inneren wurde es still.
Wie sie nun die Augen wieder öffnete, war ihr nicht nur leichter, sie war gleichsam aufgeklärt. Sie hatte also richtig gehandelt, indem sie ihren Vater
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