Hexenkuss
ersticktes Keuchen von Tante Cecile ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Tisch lenkte. Irgendetwas stimmte nicht, das spürten beide, und im selben Moment wandten sie sich zu Holly um.
Aber Holly war nicht da.
Eine blasse, schimmernde Frau saß an ihrem Platz. Ihre Kleidung war jahrhundertealt, und das Haar fiel ihr in langen Wellen bis zur Taille. Ihre Wangenknochen waren hoch, die Wangen hohl, und ihre Augen leuchteten in einem unirdischen Blau. Sie sah langsam eine nach der anderen an, als kostete es sie große Anstrengung, den Kopf zu drehen. Sie begann die Lippen zu bewegen, doch es drang kein Laut aus ihrem Mund.
»W-wo ist Holly?«, fragte Amanda, die ihre Panik nicht verbergen konnte.
Tante Cecile legte rasch eine Hand auf ihre. »Keine Angst, Mandy. Sie und diese Frau teilen denselben Platz in Raum und Zeit.«
»Sie hat... Besitz von Holly ergriffen?«, fragte Amanda. Sie warf Silvana einen Blick zu, die so verängstigt aussah, wie Amanda sich fühlte.
»Ja und nein. Hier geht es um etwas viel Mächtigeres. Sie ist beinahe ein Teil von Holly.«
Tante Cecile wandte sich der Frau zu und sprach sie auf Französisch an. Und dann, als spräche die Frau unter Wasser, antwortete eine seltsam körperlose Stimme auf Englisch.
»Ich ... mein Name ... Isabeau.« Das Flüstern der blassen Frau war leise, und ihre Worte vibrierten in der Luft - eine menschliche Stimme hätte unmöglich so klingen können. »Ich bin eine derer, die vorangegangen sind.«
»Wer bist du?«
»Ich wurde geboren als Cahors, eine von euch, und ich heiratete einen Deveraux, einen von ihnen.«
»Wann?«, fragte Tante Cecile.
»Vor sechshundert Jahren... Zu Beltane jährt sich der Tag zum sechshundertsten Mal.«
»Maifeiertag«, flüsterte Silvana Amanda zu. »Der erste Mai.«
»Weshalb bist du gekommen?«, fragte Tante Cecile.
»Habt ihr das Buch gelesen? Das Buch vom Strand?«
»Nein«, gestand Tante Cecile.
»Ah.« Die Frau seufzte. »Ich habe ihn so sehr geliebt. Er hätte ein guter Gemahl sein können, wäre mir nur genug Zeit gewährt -«
»Isabeau«, unterbrach Tante Cecile den Geist. »Bitte konzentriere dich.«
»Ihr müsst verhindern, dass es wieder geschieht.« Die geisterhafte Gestalt seufzte erneut. »Es geschieht jede Nacht, in meiner Zeit. Es ist meine Folter. Immer wieder und wieder.« Sie begann zu weinen.
»Bleib bei mir, Isabeau«, befahl Tante Cecile mit fester Stimme.
»Es wird zu Beltane in eurer Zeit geschehen. Es ist das sechshundertste Jahr, in welchem die Konstellation der Sterne der jenes ersten Mals entspricht. Es wird in eure Welt kommen, es wird erneut geschehen. Ihr müsst das verhindern.« Ihr Seufzen hallte durch den Raum.
»Was verhindern?«, fragte Tante Cecile.
Die Frau schluchzte. »Ein Massaker. Oh, Jean, mon amour, mon komme...«
»Wo ist Holly?«, fragte Silvana. »Dürfen wir mit ihr sprechen?«
Die Gestalt seufzte erneut, und Tränen liefen ihr über die Wangen. »Sie ist in mir, und ihre Augen werden bald sehen, was die meinen gesehen haben, all die Jahrhunderte, so viel Tod. Sie wird es erkennen, und sie muss es verhindern. Schon jetzt hat sie meinen Tod gesehen und meinen Verrat an meinem Gemahl, meinem liebsten Jean.«
»Und was sieht sie jetzt?«, fragte Tante Cecile.
»Sie sieht die Dunkelheit, durch die Deveraux und Cahors miteinander verwoben sind, ein großes Geheimnis und ein schreckliches Schicksal. Lange Zeit schon tobt dieser Krieg, eine blutige Fehde. Die Zerstörung ist das Kind, das ich gebären sollte, und alles, was ich wollte... Es war nicht so gedacht, dass ich ihn, dass ich seine Liebe begehren sollte... doch das tat ich...«
Paris 1562
»Erzählt mir von dem Schwarzen Feuer!«, verlangte die Königin, Caterina de' Medici.
»Es gibt dieses Feuer nicht, schon seit fast zwei Jahrhunderten nicht mehr«, spie Luc Deveraux aus, dem das Blut von den Lippen flog. Sein Körper wurde von Husten geschüttelt, und noch mehr Blut bildete Bläschen auf seinen Lippen.
Die Königin legte ihm den Zeigefinger unter das Kinn und hob seinen Kopf an, so dass er ihr in die Augen sehen musste. Selbst auf den Knien war er beinahe so groß wie die zierliche Caterina. Ihr Blick b ohrte sich mit kaltem Hass in seine Augen.
»Ich glaube, Ihr lügt.«
»Weshalb sollte ich lügen?«
»Weshalb solltet Ihr mir die Wahrheit sagen? Dafür ist Eure Familie nicht eben bekannt. Trotz Eurer Treueschwüre, Eurer Unterstützung, trotz des Mitgefühls, das Euer Vater mir bewies, als ganz
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