Hexenmacht
ich.
Schon in Tanger waren wir gemeinsam Zeugen von übersinnlichen Ereignissen geworden, und so konnte ich davon ausgehen, dass er in mir nicht sofort eine Verrückte sehen würde, wenn ich ihm von den kleinen, grünlich leuchtenden Bestien berichtete, die mich verfolgten.
Andererseits...
Es war irgendwie nicht der richtige Augenblick. Und ich wollte zunächst selbst noch etwas mehr über die Sache wissen.
"Wir müssen uns treffen", sagte ich.
"Natürlich."
"Heute Abend?"
"Ich kann dich von der Redaktion abholen."
Ich schüttelte den Kopf. "Nein, ich muss erst noch nach Hause. Ich werde dich in der Ladbroke Grove Road abholen."
"Gut."
Ich sah flüchtig auf die Uhr. Es gab an diesem Tag noch eine Menge für mich zu tun, und ich lag ohnehin schon nicht gut in der Zeit.
Wir erhoben uns.
Er nahm meine Hände.
Ich spürte meine Augen feucht werden. Tränen rannen mir über die Wangen.
Steve zog mich an sich und hielt mich fest in seinen Armen.
Seine Hand strich mir zärtlich über das Haar.
"Es wird ja alles gut", versuchte er mich zu beruhigen.
Wie gerne ich dir glauben würde!, ging es mir durch den Kopf, während meine Tränen den Stoff seiner Jacke benetzten. Du ahnungsloser...
"Steve...", flüsterte ich.
"Ja?"
"Ich bin so froh, dass du da bist!"
*
"Ich habe etwas gefunden!", rief Tante Lizzy aufgeregt, als ich von der Redaktion nach Hause zurückkehrte.
Nicht nur in der Bibliothek, auch im Kaminzimmer lagen jetzt zahlreiche Schriften auf dem Boden verstreut.
"Etwas gefunden?", echote ich, während ich vergeblich irgendwo einen freien Platz suchte, wo ich meine Handtasche ablegen konnte.
Tante Lizzy hielt einen dicken Folianten mit beiden Händen umklammert. Es handelte sich um eine der sehr raren Übersetzungen der Absonderlichen Kulte, einem Werk des deutschen Okkultisten Hermann von Schlichten.
Von Schlichten hatte einer legendären Geheimloge angehört und um die Jahrhundertwende gelebt.
Er pflegte in mittelalterlichem Latein zu schreiben, damit seine Werke nicht so leicht von Unbefugten gelesen werden konnten.
Tante Lizzy besaß neben einer Originalausgabe eine liebevoll restaurierte englische Übersetzung, die natürlich unautorisiert und in einem Privatdruck veröffentlicht worden war.
Wie viele Exemplare es davon gab, wusste niemand.
Jedenfalls handelte es sich um eine bei Okkultisten gefragte Rarität, für die hin und wieder schon mal geradezu astronomische Summen auf den Tisch gelegt wurden. Sofern der Besitzer eine Ahnung hatte, welchen Schatz er da besaß.
Ein Buch, für das möglicherweise sogar schon gemordet worden war.
So manchem allerdings waren die in dem Absonderliche Kulte beschriebenen Rituale und Praktiken zum Verhängnis geworden, wenn er versucht hatte, sie durchzuführen.
Auf jeden Fall war dieses Werk eine wahre Fundgrube. Ein Kompendium des Mysteriösen – so konnte man es bezeichnen.
In Tante Lizzys Augen blitzte es.
"Bei von Schlichten fand ich einen Hinweis auf die Forschungen eines Eurasiers namens Allan James Chang, der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine Zeitlang als Missionar in China wirkte und in jenen Jahren mit okkulten Praktiken Bekanntschaft machte. Seine Erlebnisse schilderte er in einem legendären Werk, dem er den Titel 'Von der Beschwörung der Drachengeister' gab. Er entwickelte sogar eine eigenen Theorie über die Phänomene, deren Zeuge er geworden war. Leider wurde von Changs Buch nur eine winzige Auflage gedruckt. Es erschien in einem dubiosen Verlag, aber der Großteil der Auflage verschwand auf geheimnisvolle Weise aus dem Lager, und die wenigen Exemplare, die in die Bibliotheken gelangten, sind ebenfalls im Laufe der Jahre auf rätselhafte Weise abhanden gekommen." Tante Lizzy konnte sich in derartige Dinge regelrecht hineinsteigern. Ihre Augen leuchteten.
"Sag bloß, dass ausgerechnet dir ein Exemplar geblieben ist!", wollte ich wissen.
"Leider nein", erklärte Tante Lizzy, und tiefes Bedauern schwang in ihrer Stimme. "Aber glücklicherweise geriet eines dieser Exemplare in den Besitz des schwedischen Okkultisten Leif Magnusson, der es mit dem damals ohnehin noch nicht allzuweit verbreiteten Urheberrecht nicht so genau nahm. Er schrieb ganze Passagen ab, wie er selbst später zugab. Er übernahm sie fast wörtlich in einem seiner eigenen Werke, dem er den Titel 'Unheilvolle Beschwörungen' gab. Eine englische Übersetzung erschien nie, aber als ich vor etwa zwanzig Jahren in Stockholm an eine schwedische
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