Hexennacht
gerufen. Aber das ist noch lange kein Grund, die
Privatsphäre des Einzelnen nicht zu respektieren. Es ist doch
nicht anders als bei euch: Das Private ist – heilig. Niemand
soll den anderen stören. Niemand soll sich so einfach um den
anderen kümmern. Niemand geht so einfach auf einen anderen zu.
Gerade du hättest das wissen müssen, Arved Winter. Du hast
die elementarsten Regeln verletzt. Daher wirst du dem gerechten
Richterspruch nicht entgehen.«
Arved schaute hoch in die Kuppel. Nun konnte er die alten Fresken
genauer erkennen. Es waren Dämonen und Teufel – die ganzen
Heerscharen der Hölle. Aber zwischen ihnen entdeckte er ein
kleines gemaltes Auto, einen Fernseher, ein Hochhaus und ganz oben,
zwischen zwei ausgebreiteten Schwingen, ein Flugzeug. Plötzlich
wurde ihm klar, dass er nichts mehr zu verlieren hatte. Er senkte den
Blick wieder. »Wo ist mein Verteidiger?«, fragte er
selbstbewusst.
»Du selbst bist dein Verteidiger. Es könnte keinen
besseren geben«, sagte einer der sechs – oder alle sechs
gleichzeitig. »Hast du noch etwas einzuwenden?«
»Ich möchte von hier abreisen. Sofort. Und Magdalena
Meisen kommt mit mir.«
Beinahe hatte er Gelächter erwartet, doch nur Schweigen
antwortete ihm. Dann, nach einer halben Ewigkeit: »War es das,
was du vorzubringen hast?«
»Ich bin unschuldig, denn ich habe nicht gewusst, dass ich
etwas Falsches tue.«
»Unwissenheit schützt vor Strafe nicht.«
»Wie soll man sich denn richtig verhalten, wenn man nicht
weiß, was richtig und was falsch ist?«
»Das ist dein Problem; das ist das Problem eines jeden
Einzelnen.« Die sechs weißen Gestalten erhoben sich und
sprachen das Urteil mit einer Stimme: »Der Angeklagte ist des
Verbrechens, dessen er angeklagt wurde, für schuldig befunden
worden. Das Urteil wird sofort vollstreckt. Führt ihn
ab.«
Arved traute seinen Ohren nicht. »Aber wie lautet denn nun
das Urteil?«, fragte er verdutzt, während die Schergen ihn
wieder gefangen nahmen.
Er erhielt keine Antwort mehr. Die Zwillinge schleppten ihn aus
dem Speisesaal in den Korridor. Arved versuchte erst gar nicht, sich
zu wehren. Stattdessen sagte er: »Könnt ihr nicht mal ein
Auge zudrücken? Was habe ich denn schon getan? Was ist das
überhaupt für eine Art, Feriengäste zu behandeln. Wenn
ich das dem Ortsbürgermeister erzähle, bekommt ihr
Ärger. Nicht gerade dem Tourismus förderlich, was ihr hier
macht. Was soll das? Ihr habt hier keine Rechtsgewalt. Ich werde euch
alle verklagen!« Er redete sich wütend und strampelte nun
doch wieder. Aber er konnte gegen die beiden starken Männer
nichts ausrichten.
Als sie sein Zimmer beinahe erreicht hatten, schoss aus der
Dunkelheit des hinteren Korridors etwas Schwarzes heran. Etwas
Fauchendes. Etwas sprang an den Schergen hoch. Zwei pelzige Klumpen,
die sich in die Gesichter der Männer verkrallten. Lilith und
Salomé! Arved spürte, wie der Druck um seine Arme
nachließ. Sofort kämpfte er sich frei. Die beiden
Männer lagen am Boden. Die Katzen ließen ihre Opfer nicht
los. Sie zerkratzten ihnen die Gesichter, bis die Männer um
Gnade winselten. Arved überlegte kurz, wohin er laufen sollte.
In seinem Zimmer war nichts mehr, was er brauchte. Seine
Schlüssel befanden sich in der Windjacke, die er seit seinem
Ausflug in den Nebel immer noch trug. Es gab nur eines, das hier noch
wichtig war: Magdalena Meisen. Er rannte zum Zimmer mit der Nummer
neun, öffnete die Tür.
Das Zimmer war leer. Ein feiner, süßlicher Geruch lag
in der Luft.
Es war sinnlos. Arved hastete den Korridor entlang zur
Eingangstür. Als er an dem Speisesaal vorbeilief, warf er einen
raschen Blick hinein.
Die sechs Gestalten standen immer noch hinter ihren Tischen, wie
abgeschaltet. Sie schienen Arved nicht zu sehen, denn sie versuchten
nicht, ihn aufzuhalten. Er lief auf die Eingangstür zu.
Auf die Stelle, wo die Eingangstür gewesen war.
Nun war dort nur noch eine rote Ziegelmauer, unverputzt, wie eine
Außenwand. Arved blieb stehen und schaute verblüfft hinter
sich. In einiger Entfernung kämpften die Schergen noch immer mit
den Katzen, die den Männern ganze Hautfetzen aus Gesicht und
Armen gerissen hatten. Dorthin konnte er nicht mehr zurück. Auch
nicht in den Speisesaal. Es blieb nur die Tür, durch die der
Wirt verschwunden war. Arved lief auf sie zu, drückte die Klinke
herunter, trat ein und schloss die Tür hinter sich.
Er stand in vollkommener Finsternis.
»Hallo?«, flüsterte er vorsichtig.
Der Hall
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