Hexensabbat
Anna sah ihre Schwester an, heute stopfte die schon das vierte Stück Kuchen in sich hinein, aber sie sah nicht so aus, als ob es ihr schmecken würde. Sie sah überhaupt reichlich lustlos aus, nicht mal die Lippen hatte sie geschminkt, und die auf dem Hinterkopf zusammengedrehten Haare ließen ihr Gesicht sehr herb erscheinen.
»Du tust, als ob das ein Fremdwort für dich wäre. Morgen ist schließlich Weiberfastnacht.«
»Ach ja.« Anna hatte es total vergessen.
Letztes Jahr hatte sie Till in seinem Büro abgeholt. »Befrei mich um Gottes willen von diesen mannstollen Weibern!«, hatte er gesagt. Anna hatte gegrinst, weil sie an das Jahr zuvor denken mußte, da hatte eine Schreibkraft ihn in den Oberschenkel gebissen, eine, die das ganze Jahr über brav und unscheinbar ihre Pflicht tat. Till hatte sich fürchterlich darüber aufgeregt. Sie waren also zusammen in die »Försterstube« gegangen, normalerweise hatte Anna nicht viel übrig für Kneipen, sie mochte kein Bier, und der Qualm und der Lärm bereiteten ihr Kopfweh. Letztes Jahr aber war es lustig gewesen. Sie hatte stundenlang mit Tills Bruder getanzt, der allein gekommen war, weil Waltraud die Kinder nicht allein lassen wollte, trotz Überwachungsanlage; sie war eben eine extrem fürsorgliche Mutter. Till hatte seine übliche Show abgezogen, aber er war dann schnell hinüber gewesen, Bier und Korn, die Striche auf seinem Bierdeckel waren rasch mehr geworden, und er vertrug nicht viel. Zuletzt hatte sie ihn mit Julius heimschaffen müssen. Sie hatten ihn zu zweit aufs Bett gewuchtet, ihm die Schuhe und Strümpfe und Hosen ausgezogen, er hatte weitergeschnorchelt. »Soll ich dir auch helfen, liebste Schwägerin? Bei dir wäre es mir ein Vergnügen.« Seine Hand an ihrem Körper hatte sich gut angefühlt, einen kurzen Moment lang hatte sie nachgegeben und das Prickeln und die Wärme genossen, aber dann hatte sie sich darauf besonnen, daß er Tills Bruder und verheiratet und Vater war. Bestimmt war nur dieses vergessene Roastbeef schuld: Wenn Till auf seinem Geburtstag und noch Wochen danach nicht diesen Zauber veranstaltet hätte, »auf dich ist einfach kein Verlaß, ich frage mich manchmal …«, dann wäre sie nie auf die Idee gekommen, so unverblümt mit seinem Bruder zu flirten. Es hätte passieren können. Fast wäre es passiert. Scheiße, dachte Anna.
»He, bist du noch da?« Marie wedelte Anna mit ihrer Hand vor dem Gesicht hin und her.
»Wieso nicht?« Anna schreckte hoch. Es war ein Glück, daß Marie nicht ahnen konnte, was sie sich eben vorgestellt hatte.
»In letzter Zeit bist du wirklich von der Rolle. Wolltest du nicht verreisen?«
»Schon.«
»Wie wär’s mit Karneval? Ich lade dich ein, ich habe ein Doppelzimmer in Brügge, ein Bett ist frei.«
Brügge, Belgien, on parle francais, der Typ ist abgesprungen, dachte Anna, entweder Maries Koryphäe oder der Kameramann davor. Ihr konnte es egal sein, eigentlich war diese Einladung die Lösung. Sie hatte den Karneval vergessen, doch nun, wo sie es sich vorstellte, sie allein inmitten von diesem närrischen Treiben, packte sie das Grausen. Nur weg!
»Okay! Und wie lange?«
»Sechs Tage. Morgen geht’s los.«
Der Typ mußte sehr plötzlich abgesprungen sein. Marie nahm schon wieder ein Stück Kuchen, das Bild in Annas Kopf klärte sich. Zwei Schwestern im Liebeskummer vereint. Anna griff nach der Kuchenzange, ihre Mutter sah sie erstaunt an, es war schon ihr zweites Stück. »Und was wird dein Mann dazu sagen?« fragte sie.
»Till?« Anna dehnte den Namen in die Länge, sie tat es, um Zeit zu schinden.
»So heißt er doch, oder hast du das auch vergessen?«
Schön wär’s, dachte Anna. Mit wem er wohl Karneval feiern würde? Mit Ramona oder mit der Blumenfee, beide waren aus dem Viertel, so etwas blieb nicht lange geheim, das sprach sich herum wie ein Lauffeuer. Als die Frau aus Nummer zweiundzwanzig ein Verhältnis mit dem Drogisten angefangen hatte, hatte das auch jeder gewußt, nur der gehörnte Ehemann hatte es zuletzt erfahren. Diesmal war sie die Gehörnte, doppelt gehörnt. Am schlimmsten war, daß er nicht einmal den Anstand hatte, seine Bocksprünge in neutrales Terrain zu verlegen, wo niemand ihn kannte und sie kannte. »Ich kann tun, was ich will«, sagte sie.
Als Anna Till am nächsten Morgen den Zettel hinlegte, »bin sechs Tage verreist« – sie hatte extra damit gewartet, bis er aus dem Haus war –, überlegte sie kurz, ob er es sich jetzt wohl anders überlegen
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