Hexenseelen - Roman
tun, ganz bestimmt. Sie muss es. Sobald ich ihr erklärt habe, was los ist. Wenn sie erfährt, wer du bist.«
Wer ich bin?
Wer bin ich denn?
Die Erinnerungen verdampften wie Wasser auf glühenden Steinen. Ylva erzitterte, als sich das Dunkle in ihr zu regen begann. Die Larven drängten sich aneinander, der Klumpen in ihrer Brust wuchs und gierte nach Nahrung. Zuerst zaghaft, dann immer ungestümer stießen die Fühler vor und drangen in ihre Seele ein. Sie verlangten nach Gefühlsregungen und fanden nichts.
Ylva fühlte sich leer. Dem Tode geweiht.
Das Dunkle waberte in ihr wie in einem Hexenkessel, wütete und kringelte sich in Hungerkrämpfen. Die
rauchigen Fühler durchbohrten ihren Körper und schossen aus ihr heraus. Ylva keuchte, hatte aber keine Kraft, um das Ding zu bezwingen. Hilflos beobachtete sie, wie die wurmähnlichen Schattenarme um sich griffen und in den Totenküsser eindrangen. Erst dort fand das Dunkle das, wonach es sich sehnte. Gefühle. Eine ganze Menge Gefühle, die schwer auf seinem Gemüt lasteten und jeden anderen vielleicht schon längst erdrückt hätten.
Der Mann stöhnte wie unter einem plötzlichen Schmerz auf und stieß sich von Ylva ab. Seine dunklen Augen sahen sie an - zum ersten Mal bewusst, zum ersten Mal erschrocken. Ringsherum ertönten Rufe und Kampfgeräusche, doch sie beide standen regungslos da und schauten einander an mit dem gleichen Unbehagen und dem gleichen Ersuchen um Entschuldigung.
»Conrad!«, hallte es zu ihnen herüber. Der Mann wandte sich ab und stürzte aus der Waschküche in den nächsten Raum des Kellers, aus dem der Ruf kam. Doch auf der Schwelle zögerte er und schenkte Ylva noch einen letzten irritierten Blick.
Sie lehnte den Hinterkopf an die Wand und fragte sich, wie sie sich noch auf den Beinen halten konnte. Die rauchigen Fühler zogen sich zurück, und das Ding, gestärkt und belebt, schwoll in ihrer Brust wie ein bösartiger Tumor an. Ylva kämpfte gegen die Besinnungslosigkeit. Wenn sie jetzt zusammenbrach, würde das Dunkle sie übermannen und ihren Körper vollkommen ausfüllen. Das durfte sie auf keinen Fall zulassen!
Du musst irgendetwas tun! Aber wozu? Sie hatte keine Lust mehr. Kein Ziel.
Um sie herum tobte die Schlacht. Noch beachteten die beiden Seiten sie kaum, aber wie lange würde diese Ruhepause für sie anhalten? Zumal sie keine Ahnung hatte, was hier geschah und worum überhaupt gekämpft wurde. Bedauerlicherweise gab es keinen Schiedsrichter, der zu einer Unterbrechung pfeifen und ihr die Spielregeln erklären würde. Wenigstens die Grundlagen: Wer gegen wen und warum …
Neben ihr wurde ein Körper gegen die Wand geschmettert. Ylva schrie auf und sprang zur Seite, womit sie mitten in den Durchgang gelangte. Der Nebel, den sie in dem Raum zuvor gesehen hatte, war verschwunden. Zusammen mit ihm schien auch Finn sich in nichts aufgelöst zu haben, denn sie konnte seinen Leichnam nirgends entdecken. Die schwarzhaarige Frau, die neben ihm gehockt hatte, kauerte jetzt in einer Ecke. Seelenschmerz und Verwirrung zeichneten ihr Gesicht, während sie den Kampf beobachtete. Als ihr Blick umherschweifte, blieb er an Ylva hängen. Die Verwirrung schlug in Verblüffung um.
»Ylva? Bist du es wirklich?«, hauchte sie und rief sogleich: »Vorsicht, hinter dir!«
Jemand riss Ylva zu Boden. Sie stieß mit dem Ellbogen nach ihrem Angreifer, wandte sich noch im Fall um und kam hart mit dem Rücken auf. Eine Faust zielte ihr ins Gesicht. Ganz automatisch wich sie dem Schlag aus und rammte dem Gegner einen Fuß in den Bauch. Ihre Sohle
versank im speckigen Gewebe. Der Typ - ein molliger Jugendlicher von etwa dreizehn Jahren - startete einen neuen Angriff. Ylva sprang auf und beförderte ihn mit einem Schlag auf die Knie. Als ihre Ferse ihn an der Schläfe traf, ging er k.o. Schwer atmend sah sie auf ihren niedergestreckten Feind herab. Nicht schlecht. Zu ihren Talenten in Bezug auf Käfigschlösser gesellten sich auch noch Kampfkünste. Nun ja, wenigstens etwas, womit sie sich im Leben durchschlagen konnte. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Diese Erkenntnis verlieh ihr Selbstsicherheit. Sie wartete nicht mehr, bis sie angegriffen werden würde, sondern stürzte sich in die Schlacht. Das Dunkle in ihr brodelte auf und trieb sie vorwärts. Die Luft schien wie elektrisiert - Wut, Erbitterung, Schmerz pulsierten in jedem der Kämpfenden und in gleichem Maße auf beiden Seiten. Jeder verteidigte seine Ehre und sann auf Vergeltung. Wie weit ging der
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