Hexenseelen - Roman
brachen in aufgeregtes Gemurmel aus.
»Sie hat meine Orchideen umgeworfen.«
Das Tuscheln erstarb. Ein Augenblick der Stille folgte, dann prasselten erneut Fragen auf ihn ein. Roland stieß die Umstehenden auseinander, um wieder nach vorn zu gelangen. Er hasste es, verdrängt oder, wie er glaubte, wegen seiner Fettleibigkeit diskriminiert zu werden. Vermutlich passierte beides gerade deshalb so oft. Egal, wie sehr er sich anstrengte, niemand nahm ihn ernst. Außer im Kampf.
»Warum wussten wir nichts von diesem Angebot?«, rief er und wurde erneut zur Seite geschubst, diesmal von einer Frau, die dieselbe Frage stellte und ein unterstützendes Nicken der Umstehenden erntete.
Weil ich die Gefahr unterschätzt habe, wollte Conrad erwidern. Es gab nichts zu beschönigen, und es lag ihm fern, sich aus der Verantwortung zu ziehen. Doch es war Rivas, der an seiner Stelle antwortete: »Weil die drei - Conrad, Maria und ich - die Angelegenheit noch nicht besprochen haben. Unser Anführer hatte ein Krisentreffen einberufen, aber es hat bisher nicht stattgefunden. Maria ist seit einiger Zeit nicht auffindbar, und ich war«, er blickte rasch zu der Menschenfrau, seiner Großnichte, die in einer Ecke hockte, »mit anderen Dingen beschäftigt.«
»Gütiger, ich wusste nicht, dass das Virus der Bürokratie auch die Nachzehrer erwischt hat«, tönte es aus der Menge. »Wir haben das Recht, alles zu erfahren.«
»Und das zeitig!«, stimmte ihm jemand zu.
Aufregung erfasste die Umstehenden, alle redeten durcheinander.
»Ruhe!«, ermahnte Conrad sie, und sogleich wurde es still, bis einer zögernd einwand: »Das klingt doch nicht so schlecht, was dieser Erlöser vorhat, oder?«
Conrad seufzte. Ihm blieb keine Zeit, um zu erklären, wie leer die Verheißungen dieses selbst ernannten Messias waren. Es gab für die Nachzehrer keine Erlösung. Es gab nur den Fluch. Leider sahen das die meisten nicht ein und wähnten, man könne ins Leben zurückkehren. »Eine auf der Unterdrückung der Menschheit basierende erscheint mir keine erstrebenswerte Weltordnung. Zumal wir sehr wenige sind.«
»Ach, und diese Maskerade, dieses Versteckspiel unter dem Menschenabschaum aber schon?«
»Wir werden hier alle plattgemacht. Ihr spürt doch die Gegner da draußen genauso gut wie ich, oder? Sie werden uns überrennen!«, rief Roland aus.
» Maldita sea! Und deshalb die Knie vor irgendeinem Wichtigtuer beugen?«, donnerte Rivas, der entgegen seiner Gewohnheit in der hitzigen Diskussion bis jetzt kein Wort mehr verloren hatte.
Erneut brandeten Unmut und Verzweiflung unter seinen Anhängern auf. In den Zügen seiner Mitstreiter las Conrad etwas, was er zuvor nur bei Sterblichen gesehen hatte: Furcht. Furcht um das eigene Leben. Er wandte den Blick ab und schaute unwillkürlich die Menschenfrau an, die mit angezogenen Beinen an der Wand lehnte.
Ohne jede Gefühlsregung hielt sie seinem Blick stand. Noch wenige Stunden zuvor hätte sie weggeschaut. Diesmal nicht.
Wie seltsam. Die Toten begannen das Leben zu schätzen, und die Lebenden begegneten der Gefahr mit einer alles verschlingenden Gleichgültigkeit. Sein Instinkt, durch die telepathischen Fähigkeiten verstärkt und in den vergangenen Jahrhunderten perfektioniert, ließ ihn für eine Sekunde innehalten. Als wäre dieser Augenblick irgendwie … besonders. Als flüsterte etwas ihm zu: Schau dich um! Die Welt, die du kennst, liegt in Trümmern. Jetzt wird nichts mehr so sein, wie es war.
Am Rande seiner Wahrnehmung registrierte er, wie Roland zu Boden geschleudert wurde. Das ging sicherlich auf Rivas’ Konto - dem hitzköpfigen Nachzehrer waren offensichtlich die Argumente ausgegangen. Höchste Zeit, sich einzumischen.
Wieder hob Conrad die Hand. Niemand beachtete ihn. Das verbale Gefecht erreichte seinen Höhepunkt.
» Oy! «, rief er in die Runde, auch wenn es ihm widerstrebte, die Stimme zu heben. Diesmal dauerte es einige Sekunden länger, bis Ruhe einkehrte. »Wer es für vertretbar hält, sich dem Messias anzuschließen, der sollte es tun. Zugegeben, die Chancen stehen nicht gerade zu unseren Gunsten, aber …«
Die Stimme, die von hinten zu ihm schallte, ließ ihn verstummen. »Ich würde mich gern mit dir unterhalten, wenn es geht. Jetzt.«
Linnea. Natürlich wusste er, dass sie hier war. Natürlich
hatte er sie in den letzten achtundzwanzig Jahren ab und zu gesehen. Aber von ihr angesprochen zu werden, sich umzudrehen und ihr ins Gesicht zu blicken, das war etwas anderes.
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