Hexenseelen - Roman
blies seinen
kalten Atem unter Ylvas Pullover. Regenschwangere Wolken krochen über den Himmel und verliehen der Gegend einen tristen, fahlen Ausdruck. Ylva tappte in eine Pfütze. Im Nu durchnässte das Wasser ihre Fellhausschuhe, und sie begann zu frieren. Die Arme um den Körper geschlungen, tippelte sie den Weg entlang, um in Bewegung zu bleiben und wenigstens ein bisschen Wärme zu bewahren.
Etwas Schweres legte sich auf ihre Schultern. »Nehmen Sie meine Jacke. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich keine Erkältung zu befürchten.«
Ylva entging nicht, wie akribisch er darauf achtete, sie nicht direkt zu berühren. Als wäre sie etwas Abscheuliches. Sie stolperte über ihre eigenen Füße, bestürzt über seine so unverhohlene Abneigung. Dort, im Tropenhaus, als sie seine Gestik und Mimik im spärlichen Licht nicht so deutlich sehen konnte, da hatte sie ge…
Ylva schüttelte den Kopf. Beinahe hätte sie aufgelacht. Dummes Kind! Was? Was hast du geglaubt? Dass ein Totenküsser dich mag?
Zu gern hätte sie ihm seine Jacke voller Stolz entgegengeschleudert, aber es war so verdammt kalt! Ihre Füße schienen sich in klamme Stummel zu verwandeln, und die zu Fäusten geballten Finger tauten erst auf, als sie die Hände in den Ärmeln versteckt hatte, die noch den Rest seiner Wärme trugen.
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander, während Conrad die unsichtbare Grenze zwischen ihnen nicht überschritt und auf genügend Abstand zwischen
ihnen achtete. Grimmig beobachtete Ylva sein Gehabe. Nein, es war keine Achtsamkeit angesichts ihrer Angst vor einem Untoten, er wollte sie schlichtweg nicht in seiner Nähe wissen. So einfach war das.
Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, er würde sich mit so einem stinkenden Rattenmädchen wie dir abgeben wollen?
Doch, hatte sie, und sie schämte sich ihrer Naivität. Mit einer Wange kuschelte sie sich an den Nager, der auf ihrer Schulter hockte. Wenigstens er mochte sie, aufrichtig und selbstlos.
Die nächste Böe wirbelte ihr Haar durcheinander und schleuderte ihr den Regen ins Gesicht. Die Tropfen stachen ihr in die Haut wie Nadeln. Conrad hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und die Schultern hochgezogen. Ylvas feines Gehör erlaubte ihr, sein Zähneklappern zu hören. So viel zum Thema »untot«. Dabei hatte sie angenommen, er wäre außerstande, irgendetwas zu spüren. Kälte, Hitze, Liebe, Angst …
Sie nutzte die Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten. Bei Tageslicht kam er ihr kaum so furchteinflößend wie noch eben im morgendlichen Halbdunkel des Tropenhauses vor. In jeder Hinsicht wirkte alles an ihm irgendwie ein wenig … »zu«: zu jung, zu blass, zu schmal gebaut, um jemanden allein mit seiner Erscheinung in Angststarre zu versetzen. Er sah aus wie jemand, der die Pubertät erst vor kurzem hinter sich gelassen hatte und mit seinem Leben noch nicht so wirklich etwas anzufangen wusste. Zumindest auf den ersten Blick. Denn Ylva ahnte, dass er viel, viel älter war. Jemand, für den »Ewigkeit«
kein abstrakter Begriff war. Sie sollte sich nicht von seinem harmlosen Äußeren täuschen lassen, auch jetzt warnten alle ihre Sinne sie eindringlich vor ihm.
Sein dunkelbraunes Haar hatte einen Stich ins Rötliche und war vom Unwetter zerzaust. Die Kleidung zeigte deutliche Kampfspuren - Risse, Schmutz- und Blutflecke -, wirkte jedoch auch in diesem Zustand noch elegant und gleichzeitig lässig: ein schwarzer Pullover, ein weißes Hemd, dessen Kragen aus dem Ausschnitt ragte, eine Hose mit Bügelfalten und schwarze Lederschuhe, die recht schick aussahen.
Inzwischen hatten sie den Park hinter sich gelassen. Neugierig betrachtete Ylva die Umgebung und die Menschen, denen sie über den Weg liefen. So bekam sie die Gelegenheit, Conrad mit den Lebenden zu vergleichen. Seine Fremdartigkeit fand sie auf eine beunruhigende Weise anziehend. Er bewegte sich sehr geschmeidig, als würde er über den Boden gleiten und nicht trotten wie die anderen um ihn herum. Wachsamkeit zeichnete seine Haltung aus, obwohl er nur beiläufig die Gegend anschaute, ohne länger etwas Bestimmtes im Blick zu behalten. Doch ihm entging nichts, und in seiner Gegenwart fühlte sich Ylva sicher. Nur nicht vor ihm, denn ihr wurde umso schmerzhafter klar, wie sehr sie ihm ausgeliefert war.
Plötzlich merkte sie, dass auch er sie beobachtete. Auf seine intensive und direkte Art, bei der Ylva nichts mehr wahrnahm, außer seinen braunen Augen. Blut schoss ihr ins Gesicht, die Haut erglühte.
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