Hexenseelen - Roman
Intuitiv schlug sie beide
Hände an die Wangen, um es irgendwie zu verdecken, und verriet sich umso mehr. Er lächelte, irgendwie freudlos, und wandte seinen Blick ab. Auch Ylva beobachtete fortan lieber die Umgebung statt ihn.
Links von ihr ragte ein graues Hochhaus in den Himmel, das mit seiner Präsenz alles ringsherum in den Schatten zu stellen wusste. Eine Zeichenreihe, die sie nicht entziffern konnte, zierte die oberen Stockwerke. Als Ylva sich leicht drehte, sah sie auch den weißen Fernsehturm, dessen Plattform sie an eine Untertasse erinnerte. Bald schälte sich vor Ylvas Augen ein langes, imposantes Gebäude aus hellem Sandstein mit riesigen Bogenfenstern und Verzierungen an der Fassade aus dem Regen. Im Erdgeschoss drängten sich unzählige Läden aneinander, durch die verglasten Fensterflächen der zweiten Etage sah sie eine S-Bahn anfahren.
In Conrads Begleitung tauchte Ylva in das Gebäude ein. Künstliches Licht ergoss sich über ihren Kopf, die vielen Gerüche, Ladenschilder und der Lärm überfluteten Ylvas Sinne, so dass ihr schwindelig wurde. Am liebsten hätte sie sofort das Weite gesucht, zwang sich aber zur Ruhe. Auch dem Nager war es zu viel, und er flüchtete in ihren Pulloverausschnitt.
Sie hatten nicht einmal die Mitte der Halle erreicht, als über die Rolltreppen Menschenmassen hinunterströmten, überwiegend junge Leute mit Rucksäcken und Taschen. Ylva versuchte, den Eilenden auszuweichen, wurde geschubst und angerempelt. Bald wusste sie nicht mehr, wohin sie treten sollte. Angesichts dieser plötzlichen
Invasion verlor sie völlig die Orientierung. Es kam ihr vor, als würden die Menschen sie jagen, als warteten sie nur darauf, sie wie einen Ball von einem zum anderen zu stoßen. Licht, unzählige Gesichter, schwirrende Gerüche - vor ihren Augen begann es zu flimmern. Bis jemand sie am Ärmel packte und zur Seite zog. Conrad. Ylva atmete erleichtert auf. Schon trat er zurück, hielt wieder den gewohnten Abstand zu ihr, und bedeutete ihr mit einer Geste, ihm zu folgen. Es entging ihr nicht, wie angespannt er wirkte, wie gequält sein Gesicht aussah. Als würde er all seine Kraft dazu verwenden, den Tumult um ihn herum auszublenden. Die vielen Menschen setzten offensichtlich auch ihm zu.
Wieder rührte sich etwas in Ylvas Brust. Tu ihm weh … du kannst das. Es ist so leicht, ihn jetzt zu verletzen und dich zu stärken …
Ylva biss die Zähne zusammen. Nein, denn damit würde sie nicht sich stärken, sondern das Dunkle. Ein schneidender Schmerz durchfuhr ihre Eingeweide. Ylva stolperte. Ihr Blick bohrte sich in Conrads Rücken.
Jetzt bist du die Jägerin und er - die Beute.
Sie schüttelte heftig den Kopf. Auf das Flüstern folgte wieder dieser Schmerz, der ihr Inneres aufzureißen schien. Als säße ein wildes Tier in ihrem Leib, das sich mit seinen Krallen den Weg nach draußen bahnte.
Ylva keuchte auf, hielt sich den Bauch und krümmte sich zusammen. Sie wusste, was das bedeutete. Das Ding bestrafte sie, weil sie sich ihm widersetzte. Keuchend torkelte sie zum Ausgang und war froh, an die frische Luft
zu gelangen. In tiefen Zügen saugte sie die Kälte in ihre Lunge. An einer Wand entlang schob sie sich zur Seite, wo sie keinem im Weg stand, wo keiner sie beachtete.
»Ist es das Ding?«, hörte sie Conrads besorgte Stimme. Sie wollte antworten, doch ein neuer Anfall verschlug ihr die Sprache. Es fühlte sich an, als hätte etwas ihr die Zunge herausgerissen, und sie verschluckte sich an ihrem eigenen Speichel. Oder war es tatsächlich Blut? Für mehr als ein Nicken fand sie keine Kraft und sank in die Knie, nach Luft ringend. Wie mit einem Draht schnürte sich ihr die Kehle zu. Sie würde ersticken!
Conrad hockte sich neben sie. »Bewahren Sie die Ruhe, und atmen Sie weiter. Verstanden?«
Ylva versuchte, Luft zu holen, doch es brachte nur neue Qualen. Die Larven verwandelten sich in scharfe Klauen und zerrten an ihrem Inneren.
»Wie schlimm ist es? Schaffen Sie es, das Ding zu verdrängen, oder brauchen Sie Energie?«
Sie stöhnte. Noch länger würde sie es nicht ertragen können. Keine Minute mehr! Was sollte sie bloß machen, damit die Schmerzen aufhörten? Wenn sie es nur wüsste!
Tu ihm weh , stieg die Antwort in ihrem Kopf auf. Sein Leid wird deines lindern …
Noch einige Sekunden lang kämpfte sie gegen das Flüstern, dann ließ sie sich fallen. Unbeteiligt beobachtete sie die rauchigen Pranken, die aus ihr schossen und in Conrad eindrangen.
Tu ihm weh!
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