Hexenseelen - Roman
in ihren Schläfen. Doch er studierte sie weiterhin mit seinem unverschämt offenen Blick, in dem sie eine Herausforderung zu erahnen glaubte.
»W-was liest du da?« Fast verschluckte sie sich an ihren eigenen Worten und hätte sich am liebsten vor die Stirn geschlagen. Was für eine dämliche Anmache!
Conrad kam näher, wahrte aber den gewohnten Abstand zwischen ihnen. Schweigend zeigte er ihr den Einband. Er war beigefarben, schlicht, und nur ein paar goldene Zeichen, die sich aneinanderschmiegten, zierten den Umschlag. Zeichen, die für sie keinerlei Sinn ergaben.
Du kannst nicht lesen, Rattenmädchen , spottete die Stimme in ihrem Kopf. Glaubst du wirklich, er kann etwas mit so einer dummen Nuss wie dir anfangen?
Ylva stellte sich den Blick vor, mit dem er sie strafen würde, wüsste er von ihrem Unvermögen. Herablassend, ein wenig mitleidig, aber vor allem abfällig. So, wie Micaela sie früher angeschaut hatte. Oder Linnea. Und obwohl sie es sich bloß in Gedanken ausmalte, fühlte sie sich bereits jetzt wie ein Ungeziefer, das darauf wartete, zertreten zu werden. Denn sie wusste zu gut, wie kalt und abweisend diese braunen Augen sein konnten.
Er musste ihr verzweifeltes Gesicht bemerkt haben. »Oh. Du kannst kein Englisch, hab ich Recht? Wie ungeschickt von mir.«
Ylva nickte. In ihren Augen sammelten sich Tränen. Vor Erleichterung, dass er es nicht erkannt hatte, und in der Befürchtung, er würde es doch noch merken.
Conrad machte einen Schritt auf sie zu. Es war nur ein einziger Schritt, und schon zitterte sie wie üblich vor Angst und Beklemmung, aber vor allem wegen dieser neuen Begleiterscheinungen, die seine Nähe seit kurzem in ihr verursachte.
»Es handelt sich um eine Anthologie mit Gedichten eines schottischen Schriftstellers, Robert Burns. Ich schätze seine Lyrik besonders für die wundervolle Onomatopoesie, die er meines Erachtens perfekt beherrscht.« Er senkte die Stimme, als wolle er ihr eine vertrauliche Mitteilung machen. »Manchmal lese ich mir seine Strophen laut vor, damit sich die Wirkung besser entfalten kann.«
»Ono… was?«, flüsterte sie und dachte: Was frage ich da, was gar nicht gefragt werden muss? Haben die Worte
überhaupt einen Sinn, wenn allein seine Stimme mich so sehr berauscht? Ist das echt, was mit mir … ihm … uns geschieht?
Ein weiterer Schritt brachte ihn ihr näher. Sie bekam eine Gänsehaut, die sich seltsamerweise angenehm anfühlte. Es war ein Schaudern, das eine Warnung hätte sein sollen und doch eher ein Ansporn war, denn sie wünschte sich, all das noch intensiver spüren zu können.
»Lautmalerei. Burns benutzt Wörter, die durch ihren Klang allein schon Bilder hervorzaubern können. Das finde ich überaus faszinierend, besonders wenn man bedenkt, dass Menschen unabhängig von ihrer Kultur zum Beispiel runde Formen mit weichen Lauten beschreiben und …« Seine Stimme wurde immer leiser, bis sie vollständig erstarb. Er räusperte sich. Machte noch einen Schritt. Jetzt standen sie so nah voreinander, dass die Ecke des Buches, das er in den Händen hielt, fast ihren Bauch berührte. »Verzeihung. Ich weiß, du hast keinen Vortrag gebucht.«
»Nein, nein«, beeilte sie sich zu erwidern. »Das finde ich … interessant.«
»Kein bisschen, oder?« Täuschte sie sich, oder huschte wirklich ein Lächeln über sein Gesicht? Ein richtiges Lächeln? Ein lebendiges?
Nein, sie musste sich täuschen, weil sie es sich schon so lange wünschte. »Es ist nur schwer, mir darunter etwas vorzustellen.«
In Wirklichkeit wusste Ylva schon lange nicht mehr, worüber sie überhaupt redeten. Alles erschien ihr so bedeutungslos,
abgesehen von dem Augenblick selbst, abgesehen von ihren Empfindungen und seiner Gegenwart.
»Wenn Burns über das Hochland schreibt, kann man beinahe diese Weiten und den Wind und die Freiheit im Klang der Wörter spüren. Als wäre man selbst dort.« Ohne seinen Blick von ihr abzuwenden, rezitierte er: » My heart’s in the Highlands, my heart is not here, My heart’s in the Highlands a-chasing the deer … ”
Sie schloss die Lider. Was ein Hochland war, wusste sie nicht. Und sie wollte auch nicht dort sein, sondern im Hier und Jetzt. Umfangen von Conrads Stimme, die sie davontrug, in die unendlichen Weiten und in die Freiheit. Ihr Herz raste, während etwas Fremdes auf sie einflüsterte: Wach auf, Rattenmädchen. So einer wie er würde niemals mit so einer wie dir …
Ihre Lippen bewegten sich. Sie hörte, was sie sagte, und
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