Hexenseelen - Roman
wusste nicht, wie es dazu kommen konnte. Ob wirklich sie es war, die sprach, oder das Flüstern, das für einen Sekundenbruchteil ihren vom Geist losgelösten Körper übernommen hatte: »Ich kann nicht lesen.«
Ylva zuckte in Anbetracht ihres eigenen Geständnisses zusammen und riss die Augen auf. Erschrocken musterte sie Conrads Gesicht, suchte dort nach Abweisung und Spott. Und fand nichts davon.
»Ich konnte es fast siebzig Jahre lang nicht«, war alles, was er sagte. Genauso leise, ja, mild, wie zuvor.
»Ist es schwer, es zu lernen?«
»Wenn man es sich selbst beibringt - ja. Willst du es denn lernen?«
»Wenn du es mir beibringst - sehr.«
Er lächelte, und diesmal lächelten seine Augen mit, das konnte Ylva nicht nur sehen, sondern auch mit ihrem ganzen Wesen spüren. Sie legte eine Hand auf das Buch, fuhr über die raue Oberfläche, bis sie seine Finger berührte. Er verfolgte das, was sie tat, dann sah er auf, und etwas Dunkles trat in seinen Blick. Conrad wich zurück, doch nur wenige Zentimeter, bis sie ihn nicht mehr berührte.
»Du musst mir etwas versprechen.« Seine Stimme klang plötzlich heiser und rau.
»W-was?« Wieder glaubte sie, sich an den drei einfachen Buchstaben zu verschlucken.
»Dass du nie aufhörst, Angst vor mir zu haben. Verstehst du? Ich bin ein …«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, wusste selbst nicht, wie ihr geschah, als ihre Lippen die seinen erreichten. Es war nur ein Hauch, kein wirklicher Kuss. Und dennoch so unglaublich viel mehr, als sie sich noch vor wenigen Minuten vorstellen konnte.
Conrad rührte sich nicht. Zwar erwiderte er ihren Kuss nicht, aber er stieß sie auch nicht fort. Erst als sie imstande war, auch anderes wieder wahrzunehmen, bemerkte sie seine Hände, die auf ihren Schultern ruhten. Das Buch, das zu Boden gefallen war. Die Schlange, die im Terrarium wütete.
Er hatte sie tatsächlich angefasst! Er umarmte sie gar! Die Welt drehte sich weiter, aber sie beide standen still, überwältigt von dem, was gerade passierte.
Das Glöckchen an der Tür bimmelte. Mit einem Mal kehrte die Realität zurück und zerbrach den Zauber der Zweisamkeit. Aus Conrad wurde der übliche distanzierte Mann. Aus Ylva - das Rattenmädchen.
Linnea , dachte sie. Erschrocken und dennoch voller Entschlossenheit, nicht nachzugeben, Conrad nicht aufzugeben, drehte sie sich um. Doch es war nicht Linnea, die im Eingang stand. Sondern eine ihr unbekannte Frau.
»Conrad! Großgütiger. Ich habe schon gehört, dass die Welt sich verändert, aber ich hätte mir nicht einmal in meinen kühnsten Vorstellungen ausmalen können, wie sehr.«
Kapitel 15
Y lva schnupperte, innerlich gespannt wie eine Saite, auch wenn sie bereits ahnte, wie nutzlos ihre Bemühungen waren. Denn die Dame verbreitete den Hauch des Todes, den zu missdeuten unmöglich schien. Sie gehörte eindeutig zu den Totenküssern, nur auf wessen Seite stand sie? Als der Duft nichts verraten wollte, nahm Ylva die Frau genauer in Augenschein. Sie wirkte sehr jung, blutjung, und war von einer leisen Schönheit, die einen nach und nach in den Bann zog, je länger man sie anschaute. Es waren die weichen Züge ihres Gesichts und die melancholischen blauen Augen, die sie auszeichneten, genauso wie der stolz erhobene Kopf und die majestätische Haltung.
Es wunderte Ylva keineswegs, als Conrad eine Verbeugung andeutete und sie auf eine Weise ansprach, wie er noch nie jemanden angesprochen hatte: » Mylady . Die Veränderungen haben nicht nur an mir Spuren hinterlassen. Ich bin äußerst erstaunt darüber, Euch in dieser Aufmachung begrüßen zu dürfen. Was ist mit Eurer …«
»Maskerade geworden?« Mit beiden Händen fuhr sie sich über den langen, figurbetonten Kaschmirmantel, der fast bis zum Boden reichte. »Ich habe den Entschluss
gefasst, einen neuen Abschnitt meines Daseins zu beginnen. Ich hatte es satt, mich zu verstecken und als etwas auszugeben, was ich nicht bin: Goth-Lady, Punk, Hippie - ach, was ich nicht alles schon mit mir angestellt habe!« Ihr Blick wurde eine Spur trauriger. »Früher haben mich meine Geschwister immer damit aufgezogen, wie vernünftig ich war. Ich sei adoptiert, haben sie gescherzt. Und jetzt … Ich denke, es ist für mich an der Zeit, zu meinen Wurzeln zurückzukehren.« Dann blitzten ihre Augen wieder frech auf. »Zugegeben, von meinen Boots konnte ich mich dann doch nicht trennen.«
Ein Fuß schlüpfte aus dem Schlitz des Mantels und präsentierte die Stiefel mit klobigen
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