Hexenstunde
vernichten.
Stefan, sollte der Feind nicht besiegt sein, sollte er seine Angriffe auf mich mit mörderischer Kraft fortführen, dann werde ich meine Erzählung abbrechen, die wichtigsten Elemente der Sache in kurzen, schlichten Sätzen niederschreiben und den Brief versiegelt in meiner stählernen Schatulle verwahren. Heute früh habe ich bereits mit dem Gastwirt abgesprochen, daß diese Kassette im Falle meines Ablebens nach Amsterdam zu senden ist. Auch mit einem Agenten hier am Ort habe ich geredet, dem Vetter und Freund unseres Agenten in Marseille, und ihn angewiesen, in einem solchen Falle nach der Kassette zu fragen.
Laß mich indessen hinzufügen, daß diese beiden mich aufgrund meines Aussehens für einen Wahnsinnigen halten. Nur mit Hilfe meines Goldes konnte ich ihre Aufmerksamkeit gewinnen, und ich habe ihnen eine reiche Belohnung versprochen, sofern die Kassette mit diesem Brief in deine Hände gelangt.
Stefan, ihr hattet recht mit all euren Warnungen und Vorahnungen. Ich bin tiefer und immer tiefer in den Abgrund des Bösen gesunken; ich bin unrettbar verloren. Ich hätte heimkehren sollen zu euch. Zum zweitenmal in meinem Leben erfahre ich jetzt die Bitterkeit der Reue.
Ich bin kaum noch lebendig. Meine Kleider sind zerfetzt, meine Schuhe zerrissen und dahin, meine Hände von Dornen zerkratzt. Ich habe Kopfschmerzen von der langen Nacht und von der Flucht durch die Finsternis. Aber ich habe keine Zeit, weiter zu ruhen. Ich wage nicht, noch in dieser Stunde zu Schiff zu flüchten, denn wenn dieses Wesen mir nachsetzen will, dann wird es das hier wie auf See tun. Und da ist es besser, daß es an Land geschehe, damit meine Eisenkassette nicht verlorengeht.
Die Zeit, die mir bleibt, muß ich nutzen, um zu berichten, was geschehen ist…
… Es war früh am Abend jenes Tages, an dem ich Dir zuletzt schrieb, daß ich von hier fortfuhr. Ich hatte meine feinsten Kleider angelegt und war zur vereinbarten Stunde hinuntergegangen, um die Kutsche zu erwarten. Was ich in den Straßen von Port-au-Prince gesehen hatte, war Grund genug gewesen, eine prachtvolle Equipage zu erwarten, doch was ich nun erblickte, übertraf alle meine Vorstellungen, denn es war eine gläserne Kutsche von exquisiter Schönheit mit Lakai, Kutschern und zwei bewaffneten Wachen zu Pferde – allesamt schwarze Afrikaner in voller Livree mit gepuderten Perücken und Kleidern aus Satin.
Die Fahrt in die Berge war äußerst angenehm. Am Himmel trieben hohe weiße Wolken, und die Hügel waren herrlich bewaldet und von prachtvollen Kolonialvillen bestanden, viele davon umgeben von Blumen und Bananenbäumen, die hier im Überfluß wachsen.
Nicht minder bezaubernd war das ferne blaue Meer, auf das man immer wieder einen kurzen Blick erhäschen konnte. Wenn es ein Meer gibt, das so blau ist wie das karibische, so habe ich es noch nicht gesehen, und in der Dämmerung bietet es einen überaus spektakulären Anblick – doch davon wirst du später mehr erfahren, denn ich habe viel Zeit gehabt, die Farbe dieses Meeres zu betrachten.
Die Straße führte mich auch an zwei kleineren Plantagengebäuden vorbei, sehr hübschen Villen, die durch weite Gärten von der Straße getrennt waren. Und am Ufer eines kleinen Flusses sah ich einen Friedhof mit schönen Marmorsteinen, auf denen französische Namen standen. Da wir sehr langsam über die kleine Brücke fuhren, hatte ich Zeit, alles zu betrachten und an diejenigen zu denken, die in dieses wilde Land gekommen waren, um hier zu leben und zu sterben.
Aus zwei Gründen spreche ich von diesen Dingen; aber der wichtige, den ich jetzt nennen muß, ist der, daß meine Sinne eingelullt waren von den Schönheiten des Weges, von der schweren, schwülen Dämmerung, von der Weite der Plantagen und dem Glanz der Pflanzervilla, in der Charlotte wohnte, und die am Ende der befestigten Straße plötzlich auftauchte, großartiger als alles, was ich bisher gesehen hatte.
Licht in schwindelerregender Verschwendung strahlte uns entgegen, als wir näher kamen. Noch nie habe ich so viele Kerzen gesehen – nicht einmal am französischen Hofe. Laternen hingen an den Ästen der Bäume. Bald sah ich, daß alle Fenster an den Veranden offen waren, und im Dunkeln drinnen schimmerten Kronleuchter und feines Mobiliar sowie andere farbenfrohe Dinge.
So sehr war ich von all dem abgelenkt, daß ich zusammenschrak, als ich die Dame des Hauses gewahrte, die zum Gartentor herauskam, um mich zu empfangen, und dort zwischen
Weitere Kostenlose Bücher