Hexenstunde
sind keine Grenzen gesetzt: Wenn sie wollen, können sie ihre Sklaven totpeitschen lassen.
Was ihr Hauspersonal angeht, so ist es wohlgenährt, verschwenderisch gekleidet, privilegiert und – wenn man den Worten der Händler am Ort glauben darf – frech. Fünf Zofen bedienen allein Charlotte, an die sechzehn Sklaven führen die Küche, und niemand weiß, wie viele für die Salons, die Musikzimmer und Ballsäle des Hauses zuständig sind. Und da sie viel Freizeit haben, sind diese Sklaven oft in Port-au-Prince zu sehen, und sie haben Gold in den Taschen, so daß ihnen die Läden jederzeit offen stehen.
Nur Charlotte sieht man fast niemals außerhalb des weitläufigen Anwesens, welches übrigens den Namen Maye Faire trägt; den aber schreibt man hier stets in englischer, nie in französischer Sprache und so, wie ich ihn oben buchstabiert habe.
Die Dame hat seit ihrer Ankunft schon zwei prächtige Bälle gegeben, bei denen ihr Mann auf einem Stuhl dem Tanze zugeschaut hat; sogar der alte Herr war dabei, obgleich er sehr schwach ist. Die feinen Leute der Gegend, die nichts anderes als ihr Vergnügen im Sinn haben, da es hier sonst nicht viel zu bedenken gibt, danken ihr die beiden Feste von Herzen und sehnen sich nach weiteren, und sie können gewiß sein, daß Charlotte sie nicht enttäuschen wird.
Soweit ich es in Erfahrung bringen konnte, wird die Dame nur von ihren Sklaven als Hexe bezeichnet, und das voller Ehrfurcht und Respekt wegen ihrer heilenden Kräfte, die hier einen gewissen Ruf erlangt haben; aber ich will nochmals wiederholen: Niemand hier weiß irgend etwas über das Ereignis in Frankreich. Der Name Montcleve wird nie erwähnt, und von der Geschichte der Familie weiß man nur, daß sie aus Martinique stammt.
Am Nachmittag, als ich von meinem Umher wandern müde war, kam ich hierher in mein Quartier, wo ich zwei Sklaven habe, die mich auskleiden und baden, wenn ich es zulasse; ich schrieb der Dame, daß ich sie gern besuchen würde und daß ich eine Nachricht von äußerster Wichtigkeit für sie habe, von einer Person, die ihr sehr teuer ist, teurer vielleicht als irgend jemand sonst, und die mir ihre Adresse am Abend vor ihrem Tode anvertraut hat. Ich sei persönlich gekommen, schrieb ich, weil meine Nachricht zu wichtig sei, als daß ich sie einem Brief anvertrauen könne, und ich unterschrieb mit meinem vollen Namen.
Kurz bevor ich mit diesem Tagebucheintrag begann, kam die Antwort. Ich solle noch heute abend nach Maye Faire kommen. Ja, vor Einbruch der Dunkelheit wird mich eine Kutsche erwarten. Ich solle mitbringen, was ich brauche, um diese und auch die nächste Nacht dort zu verbringen, wenn es mir recht ist. Ich gedenke es zu tun.
Stefan, ich bin höchst erregt und habe überhaupt keine Angst. Nachdem ich auf das gründlichste darüber nachgedacht habe, weiß ich jetzt, daß ich meine Tochter sehen werde. Doch wie ich ihr das offenbaren, ja, ob ich es ihr überhaupt offenbaren soll – diese Frage erfüllt mich mit großer Besorgnis.
Ich werde jetzt baden, mich entsprechend kleiden und auf dieses Abenteuer vorbereiten. Ich habe überhaupt nichts dagegen, einmal eine große koloniale Pflanzung zu sehen. Stefan, wie kann ich sagen, was in meinem Herzen ist? Es ist, als sei mein Leben bisher in Pastellfarben gemalt gewesen; jetzt aber bekommt es den satten Farbenreichtum eines Rembrandt van Rijn.
Ich fühle die Dunkelheit in meiner Nähe, und ich fühle das strahlende Licht. Und schärfer denn je spüre ich den Kontrast zwischen den beiden.
Bis ich diese Feder wieder zur Hand nehme, bin ich
Dein Diener
Petyr
Postscriptum: Abgeschrieben und per Brief an Stefan Franck gesandt am selben Abend. P. v. A.
Port-au-Prince
Saint Domingue
Lieber Stefan,
volle zwei Wochen sind vergangen, seit ich dir das letztemal schrieb. Wie kann ich all das schildern, was inzwischen geschehen ist? Ich fürchte, daß ich keine Zeit mehr dazu habe, daß mir nur eine kurze Atempause vergönnt ist – doch ich muß alles, alles niederschreiben. Ich muß dir berichten, was ich gesehen, was ich getan, was ich gelitten habe.
Nach meiner Rückkehr ins Gasthaus habe ich zwei Stunden geschlafen. Gegessen habe ich auch, doch nur, um ein wenig Kraft zu schöpfen. Ich hoffe und bete, daß das Wesen, das mir gefolgt ist und mich auf dem langen Weg von Maye Faire hierher gepeinigt hat, endlich zu der Hexe zurück gekehrt sein möge, die es mir nachgeschickt hat, um mich in den Wahnsinn zu treiben und zu
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