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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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sie, und ich hatte getan, was sie mir aufgetragen hatte. Aber Suzanne kam nicht zu mir! Ich hörte nichts, ich fühlte nichts, und ich wunderte mich über all die Dinge, an die meine Mutter geglaubt hatte.
    Und dann kam er, sage ich dir. Ich fühlte, wie er in der Dunkelheit kam. Ich fühlte seine Liebkosung.«
    »Wieso seine Liebkosung?«
    »Er berührte mich, wie du mich berührt hast. Ich lag im Dunkeln, und da waren Lippen auf meinen Brüsten. Lippen auf meinen Lippen. Zwischen den Beinen streichelte er mich. Ich setzte mich auf und dachte: Ah, es war ein Traum, ein Traum aus der Zeit, da Antoine noch ein Mann war. Aber er war da! ›Du brauchst Antoine nicht‹, sagte er. ›Meine schöne Charlotte.‹ Und da erst, siehst du, da erst legte ich den Smaragd an. Ich legte ihn an, wie sie es mir aufgetragen hatte.«
    »Und er hat dir erzählt, daß sie tot war?«
    »Ja. Daß sie vom Dach der Kathedrale gefallen war und daß du den bösen Priester in den Tod gestoßen hattest. Ah, aber er spricht höchst seltsam. Du kannst dir nicht vorstellen, wie seltsam seine Worte waren. Als hätte er sie überall auf der Welt aufgelesen, wie er Gold und Edelsteine aufliest, hier ein bißchen, da ein bißchen.«
    »Erzähl mir davon«, sagte ich.
    Sie überlegte. »Ich kann es nicht«, sagte sie dann seufzend. Schließlich versuchte sie es doch, und ich will mein Möglichstes tun, es hier wiederzugeben. »›Ich bin hier, Charlotte, ich bin Lasher, und ich bin hier. Deborahs Geist verließ ihren Körper und fuhr empor; er hat mich nicht gesehen; er hat die Erde verlassen. Ihre Feinde rannten nach links und nach rechts und wieder nach links vor Angst. Sieh mich, Charlotte, und höre mich, denn ich existiere, um dir zu dienen, und nur indem ich dir diene, existiere ich.‹« Sie seufzte wieder. »Aber noch seltsamer klingt es, wenn er mir eine lange Geschichte erzählt.«
    »Und wie kam er in die Nähe der Steine von Donnelaith?« fragte ich. »Denn dort rief Suzanne ihn das erstemal, nicht wahr?«
    »Er war nirgendwo, als sie ihn rief. Er kam ins Dasein durch ihren Ruf. Das heißt, er hat keine Kenntnis von sich vor dieser Zeit. Seine Kenntnis von sich beginnt mit ihrer Kenntnis von ihm, und sie wird stärker mit der meinen.«
    »Ah, aber das könnte Schmeichelei sein, weißt du«, gab ich zu bedenken.
    »Du sprichst von ihm, als habe er kein Gefühl. Aber das ist falsch. Ich sage dir, ich habe ihn weinen hören.«
    »Weshalb? Sage mir das.«
    »Über den Tod meiner Mutter. Hätte sie es zugelassen, dann hätte er alle Bewohner von Montcleve vernichten können. Unschuldige wie Schuldige wären bestraft worden. Aber für meine Mutter war so etwas unvorstellbar. Meine Mutter suchte nur Erlösung, als sie sich von der Kathedralenmauer stürzte. Wäre sie stärker gewesen…«
    »Und du bist stärker.«
    »Seine Macht zur Zerstörung zu benutzen, das taugt nichts.«
    »Ja. Insofern bist du weise, das muß ich gestehen.«
    Ich grübelte über all das nach und versuchte mir einzuprägen, was gesprochen wurde, und ich glaube, es gelang mir auch. Vielleicht wußte sie es, denn als nächstes sagte sie traurig zu mir:
    »Ach, wie kann ich dich von hier fortgehen lassen, da du dieses alles über ihn und mich weißt?«
    »Du willst mich also töten?« fragte ich.
    Sie weinte und wandte das Gesicht ins Kissen. »Bleib bei mir«, sagte sie. »Meine Mutter hat dich darum gebeten, und du hast sie abgewiesen. Bleib bei mir. Von dir könnte ich starke Kinder bekommen.«
    »Ich bin dein Vater. Du bist wahnsinnig, dies von mir zu verlangen!«
    »Was macht das schon!« rief sie. »Ringsumher ist nichts als Dunkelheit und Geheimnis. Was macht es da schon?« Und ihre Stimme erfüllte mich mit Trauer.
    Vor dem Morgengrauen erwachte ich.
    Der Morgenhimmel füllte sich mit dicken, rosig überhauchten Wolken, und das Donnern des Meeres klang wunderbar in meinen Ohren. Charlotte war nirgends zu sehen. Ich bemerkte, daß die Tür nach draußen geschlossen war, und ich wußte, ohne es erst zu probieren, daß sie von außen verriegelt war. Die kleinen Fenster in den Wänden zu beiden Seiten waren so winzig, daß nicht einmal ein Kind hätte hindurchschlüpfen können. Lamellenläden bedeckten sie jetzt, durch die der Wind sang, und die kleine Kammer war von frischer Seeluft erfüllt.
    Benommen starrte ich hinaus ins erstrahlende Licht. Ich wollte heim nach Amsterdam, doch ich fühlte mich unrettbar besudelt. Und als ich versuchte, mich aufzuraffen und das

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