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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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mit gräßlich gleichförmiger Stimme stundenlang laut aus ihren Büchern vorlas. Es heißt, sie habe die Leute ganz unbekümmert und nach Belieben beleidigt. Sie liebte ihre Nichte Angeline (Rémys Tochter) und Katherine. Katherines Söhne Clay und Vincent verwechselte sie dauernd mit ihren Onkeln Julien und Rémy. Katherine beschrieb man als grauhaarig und verschlissen, und sie soll unablässig an ihrer Stickerei gearbeitet haben.
    Marguerite starb erst mit zweiundneunzig Jahren; Katherine war damals einundsechzig Jahre alt.
    Von den Inzestgeschichten abgesehen, die für die Mayfairs seit den Tagen von Jeanne Louise und Pierre typisch sind, gibt es über Katherine nichts Okkultes zu berichten.
    Die schwarzen Diener, Sklaven wie Freie, hatten nie Angst vor Katherine. Niemand hat je einen mysteriösen, dunkelhaarigen Liebhaber gesehen. Und nichts deutet darauf hin, daß Darcy Monahan nicht schlicht und einfach am Gelbfieber gestorben ist.
    Die Mitglieder der Talamasca haben sogar Spekulationen darüber angestellt, denen zufolge in Wahrheit Julien die »Hexe« dieser Periode war. Andere vertraten die These, Katherine sei zwar ein natürliches Medium gewesen, habe diese Rolle aber abgelehnt, als sie sich in Darcy verliebte; deshalb sei Julien so sehr gegen diese Ehe gewesen, denn Julien habe die Geheimnisse der Familie gut gekannt.
    Es ist somit unerläßlich, daß wir Julien etwas detaillierter betrachten. Noch in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts wurden uns faszinierende Informationen über Julien zugetragen. Überdies finden sich zahlreiche öffentliche und aktenkundige Erwähnungen seiner Person, und es hängen drei Ölporträts von ihm in amerikanischen Museen sowie eines in London.
    Juliens schwarzes Haar wurde schlohweiß, als er noch recht jung war, und zahlreiche Photos sowie die genannten Ölgemälde zeigen ihn als einen Mann von beträchtlicher Präsenz und außerordentlichem Charme, ja von nachgerade körperlicher Schönheit. Manche sagen, er habe große Ähnlichkeit mit seinem Vater gehabt, dem Opernsänger Tyrone Clifford McNamara.
    Einigen Mitgliedern der Talamasca ist indessen aufgefallen, daß Julien große Ähnlichkeit mit seinen Vorfahren Deborah Mayfair und Petyr van Abel hatte, die einander selbstverständlich keineswegs ähnlich sahen. Julien scheint die Eigenschaften dieser beiden Ahnen in bemerkenswerter Weise in sich vereint zu haben. Er hat Petyrs Größe, sein Profil und seine blauen Augen und Deborahs zierliche Wangenknochen und ihren Mund. Auf mehreren Porträts gleicht sein Gesichtsausdruck in erstaunlicher Weise dem Deborahs.
    Es ist, als habe der Porträtmaler des neunzehnten Jahrhunderts Rembrandts Deborah-Bildnis gekannt – was natürlich nicht sein kann, da es sich immer bei uns im Mutterhaus befunden hat -, und als habe er bewußt danach getrachtet, die von Rembrandt eingefangene »Persönlichkeit« nachzuempfinden. Wir können nur annehmen, daß Julien diese Persönlichkeit tatsächlich besessen hat. Bemerkenswert ist zudem, daß er auf den Photographien – trotz der würdevollen Haltung und anderen formalen Aspekten der Arbeiten – meistens lächelt.
    Es ist ein »Mona Lisa«-Lächeln, aber ein Lächeln immerhin, und es hat etwas Bizarres, weil es ganz und gar nicht zu den photographischen Konventionen des neunzehnten Jahrhunderts passen will. Es ist, als habe Julien das »Bildermachen« amüsant gefunden. Auf Photographien, die kurz vor seinem Lebensende, im zwanzigsten Jahrhundert also, aufgenommen wurden, lächelt er ebenfalls, aber sein Lächeln ist breiter und großzügiger. Es ist anzumerken, daß er auf diesen späteren Bildern extrem gutgelaunt, ja, einfach glücklich aussieht.
    Julien war jedenfalls sein ganzes Leben lang der Magnat der Familie; er herrschte mehr oder minder über seine Nichten und Neffen und auch über seine Schwester Katherine und seinen Bruder Rémy.
    Daß er unter seinen Feinden Furcht und Verwirrung stiften konnte, war wohlbekannt. Ein wütender Baumwollmakler wußte zu berichten, daß Julien während eines Disputs die Kleidung eines anderen Mannes habe in Flammen aufgehen lassen. Das Feuer wurde hastig gelöscht, und der Mann genas von ziemlich schweren Verbrennungen; gegen Julien wurde nie etwas unternommen. Ja, viele, die davon hörten – einschließlich der örtlichen Polizei – glaubten die Geschichte gar nicht, und Julien lachte, wann immer man ihn danach befragte. Aber es gibt auch eine – von einem einzigen Zeugen überlieferte

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