Hexenstunde
einem Brand in einem Lagerhaus ums Leben gekommen. Er hatte versucht, einen anderen Feuerwehrmann zu retten.
Für Michael und seine Mutter war die Zeit im Irish Channel vorbei. Ende Mai war das Haus in der Annunciation Street verkauft. Und eine Stunde, nachdem Michael vor dem Altar der St.-Alphonsus-Kirche sein High-School-Diplom in Empfang genommen hatte, saßen er und seine Mutter in einem Greyhound-Bus nach Kalifornien.
Seine Tante Vivian wohnte am Golden Gate Park in einem hübschen Apartment voll dunkler Möbel und echter Ölgemälde. Sie kamen bei ihr unter, bis sie ein paar Straßen weiter eine eigene Wohnung gefunden hatten. Michael bewarb sich sofort um einen Studienplatz am staatlichen College; mit der Lebensversicherung seines Vaters war für alles gesorgt.
Michael war begeistert von San Francisco. Sicher, es war immer kalt und jämmerlich windig und trübe. Gleichwohl liebte er die düsteren Farben der Stadt, die ihm ganz eigenartig erschienen – Ockergelb und Olivgrün und dunkles Rot und tiefes Grau. Die großen, schmucken viktorianischen Häuser erinnerten ihn an die schönen Villen von New Orleans.
Es schien, daß die mächtige Unterklasse, der er in New Orleans angehört hatte, in dieser Stadt überhaupt nicht existierte; sogar die Polizisten und Feuerwehrleute hier sprachen vornehm und kleideten sich gut und besaßen teure Häuser. Es war unmöglich, zu sagen, aus welchem Stadtteil jemand kam. Die Gehwege waren erstaunlich sauber, und eine Atmosphäre der Zurückhaltung schien selbst die kleinste Kommunikation zwischen den Menschen zu prägen.
Als er in den Golden Gate Park ging, sah Michael mit Staunen die Menschenscharen dort, und daß sie die Schönheit der dunkelgrünen Landschaft noch zu verstärken schienen, statt sie zu stören. Sie fuhren mit ihren prachtvollen ausländischen Fahrrädern auf den Wegen entlang, picknickten in kleinen Gruppen auf dem samtigen Rasen oder saßen vor dem überdachten Orchesterpodium und lauschten dem Sonntagskonzert. Auch die Museen der Stadt waren eine Offenbarung, voll echter alter Meister, und sonntags drängten sich ganz normale Leute dort hinein, Leute mit Kindern, die all dies anscheinend als Selbstverständlichkeit empfanden.
Es war, als sei er aus einem anderen Land in die Welt geraten, die er bis dahin nur vom Fernsehen kannte. Nicht aus den ausländischen Filmen mit den großen Häusern und den Smoking-Jacketts natürlich, sondern aus den späteren amerikanischen Filmen und Fernsehshows, in denen alles nett und zivilisiert war.
Und hier war Michaels Mutter glücklich, wirklich glücklich, wie er sie noch nie gesehen hatte; sie arbeitete wieder wie früher als Kosmetikerkäuferin und hatte ein Sparkonto, und am Wochenende besuchte sie ihre Schwester und manchmal auch ihren älteren Bruder, »Onkel Michael«, einen vornehmen Säufer, der bei Gumps in der Post Street »feines Porzellan« verkaufte.
Es war, als habe es die Kindheit in New Orleans nie gegeben.
Während dieser Zeit begann Michael das kleine Geheimnis seiner Familie mütterlicherseits zu begreifen. Stück um Stück kam er zu der Erkenntnis, daß sie einmal sehr reich gewesen waren, diese Leute. Und seiner Mutter Großmutter väterlicherseits war es gewesen, die das ganze Vermögen vergeudet hatte. Von ihr war nichts geblieben als ein geschnitzter Stuhl und drei Landschaftsgemälde in schweren Rahmen. Aber man sprach von ihr wie von einer Göttin, einer wundervollen Frau, die die ganze Welt bereist und Kaviar gegessen und es zuwege gebracht hatte, ihren Sohn nach Harvard gehen zu lassen, ehe sie vollends bankrott gewesen war.
Was diesen Sohn – den Vater seiner Mutter – anging, so hatte er sich zu Tode getrunken, nachdem er seine Frau verloren hatte, ein schönes, irisch-amerikanisches Mädchen aus dem Mission District von San Francisco. Über »Mutter« wollte niemand reden, und bald war klar, daß »Mutter« Selbstmord begangen hatte. »Vater« hatte unablässig getrunken, bis ihn der tödliche Schlag getroffen hatte; seinen Kindern hatte er eine kleine Jahresrente hinterlassen. Michaels Mutter und ihre Schwester Vivian hatten ihre Schulausbildung im Konvent vom Heiligen Herzen beendet und kultivierte Berufe ergriffen. »Onkel Michael« sei Dad »wie aus dem Gesicht geschnitten«, bemerkten sie seufzend, wenn der Cognac ihn auf dem Sofa hatte einschlummern lassen.
Dieses schrittweise Kennenlernen der Familie seiner Mutter erhellte für Michael noch manches mehr. Im Laufe der
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