Hexenstunde
der Wahrheit; das wußte Michael, denn seine Mutter hatte die alte Frau während ihrer letzten Tage gepflegt.
Seine Großeltern starben beide in dem Jahr, als Michael zur High-School kam: seine Großmutter im Frühjahr, der Großvater zwei Monate später. Alles änderte sich. Manchmal fürchtete Michael, dies sei nun die Zeit, da seine Träume zu sterben hätten und die wirkliche Welt ihn vereinnahmen sollte. Andere Leute sahen es anscheinend so. Marie Louises Vater schaute ihn eines Abends, auf der Verandatreppe sitzend, mit kaltem Blick an und wollte wissen: »Wie kommst du darauf, daß du zum College gehen wirst? Hat dein Daddy denn das Geld für Loyola?« Er spuckte auf das Gehwegpflaster und musterte Michael von Kopf bis Fuß. Da war er wieder, dieser angewiderte Ausdruck.
Aber vielleicht hatten sie ja alle recht, und es war an der Zeit, an andere Dinge zu denken. Michael war fast einsachtzig groß, riesig für einen Jungen vom Irish Channel und ein Rekord in diesem Zweig der Familie Curry. Sein Vater kaufte einen alten Packard und brachte ihm binnen einer Woche das Autofahren bei, und dann fand er einen Teilzeitjob als Blumenfahrer für einen Floristen in der St. Charles Avenue.
Aber erst in seinem zweiten Jahr an der High-School geschah es, daß seine alten Ideen allmählich verflogen und er selbst seine Ambitionen zu vergessen begann. Er verlegte sich aufs Football-Spielen, schaffte es bis in die erste Mannschaft, und plötzlich stand er draußen auf dem Spielfeld im Stadion von City Park, und die Kids kreischten. »Punktgewinn durch Michael Curry«, dröhnten die Lautsprecher. Marie Louise teilte ihm mit hinschmelzender Stimme am Telephon mit, er habe nunmehr, was sie betreffe, alle Gewalt über ihren Willen, und mit ihm würde sie »alles« tun.
Michael las immer noch Bücher, aber das Spiel war der eigentliche Brennpunkt seines Gefühlslebens in diesem Jahr. Football war genau das Richtige für seine Aggressionen, für seine Kraft und auch für seine Frustration. Er war einer der Stars an der Schule. Er fühlte, wie die Mädchen ihn anschauten, wenn er jeden Morgen um acht in der Messe den Mittelgang hinaufging.
Und dann wurde der Traum wahr. Die Redemptoristenschule, die immer die ärmste weiße Schule von ganz New Orleans gewesen war, gewann die Stadtmeisterschaft. Die Underdogs hatten es geschafft, die Kids von der anderen Seite der Magazine Street, die Kids, die so komisch sprachen, daß jeder gleich wußte, sie waren aus dem Irish Channel.
Sogar die Times-Picayune quoll über vor Lob. Die Sammlung für eine eigene Turnhalle der Schule lief auf Hochtouren, und Michael und Marie Louise »gingen bis zum letzten« und litten dann Todesqualen, während sie abwarteten, ob Marie Louise nun schwanger wäre.
In diesem Augenblick hätte Michael alles verlieren können. Nichts wünschte er sich mehr, als Football-Punkte zu erzielen, mit Marie Louise zusammen zu sein und Geld zu verdienen, damit er sie im Packard ausführen konnte. An Mardi Gras verkleideten er und Marie Louise sich als Piraten, fuhren hinunter ins French Quarter, tranken Bier und schmusten und knutschten auf einer Bank am Jackson Square. Es wurde Sommer, und sie redete immer öfter vom Heiraten.
Michael wußte nicht, was er machen sollte. Er hatte das Gefühl, er gehöre zu Marie Louise, und doch konnte er mit ihr nicht reden. Sie haßte die Filme, in die er mit ihr ging. Und wenn er vom College redete, sagte sie, er sei ein Träumer.
Dann kam der Winter von Michaels drittem Jahr. Es war bitterkalt, und New Orleans erlebte den ersten Schnee seit hundert Jahren. Die Schule endete vorzeitig, und Michael spazierte allein durch den Garden District, dessen Straßen unter einer wunderschönen weißen Decke lagen, und er sah zu, wie der Schnee weich und lautlos rings um ihn herum herabfiel. Diesen Augenblick wollte er nicht mit Marie Louise teilen. Statt dessen teilte er ihn mit den Häusern und den Bäumen, die er liebte, und voller Staunen betrachtete er das wunderbare Schauspiel der schneeverbrämten Veranden und schmiedeeisernen Gitter.
Kinder spielten auf der Straße; Autos fuhren langsam über die eisige Glätte und gerieten an den Straßenecken gefährlich ins Rutschen. Stundenlang blieb der wundervolle Schneeteppich auf dem Boden liegen; schließlich ging Michael nach Hause, und seine Hände waren so kalt, daß er kaum den Schlüssel im Schloß drehen konnte. Er sah, daß seine Mutter weinte.
Sein Dad war am Nachmittag um drei bei
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