Hexenstunde
kann ich im Moment für Sie tun?« fragte der Engländer; seine Stimme klang leise und geheimnisvoll und grenzenlos fürsorglich. »Möchten Sie an den Sarg herantreten?«
Ja, bitte bringen Sie mich hin. Bitte helfen Sie mir! Machen Sie, daß meine Beine sich bewegen. Aber sie bewegten sich ja. Er hatte den Arm um sie gelegt und führte sie, so mühelos, und die Konversation ringsum hatte wieder eingesetzt, gottlob, allerdings war es nun ein leises, respektvolles Gemurmel, aus dem sie nach Belieben verschiedene Stränge herausziehen konnte. »… sie wollte einfach nicht ins Bestattungsinstitut kommen: Das ist die Wahrheit. Sie kocht vor Wut, weil wir alle hier sind.« – »Hör auf, sie ist mindestens neunzig Jahre alt, und wir haben achtunddreißig Grad draußen.« – »Ich weiß, ich weiß. Na, nachher können alle zu mir kommen; das habe ich schon gesagt…«
Sie hielt den Blick gesenkt – auf die Silbergriffe, auf die Blumen, auf die samtene Kniebank, die jetzt unmittelbar vor ihr stand. Wieder die Übelkeit. Das kam von der Hitze und der stehenden kühlen Luft und dem Blumenduft, der sie umgab wie ein unsichtbarer Nebel. Aber du mußt es tun. Du mußt es ganz ruhig und gelassen tun. Du darfst es nicht versäumen. Versprich mir, daß du nie zurück gehen wirst, daß du nie versuchen wirst, heraus zu finden…
Langsam zwang sie sich, vom Boden aufzuschauen, den Blick zu heben, bis sie das Gesicht der toten Frau sah, das dort auf dem Satinkissen lag. Und langsam begann ihr Mund sich zu öffnen, und die Muskelstarre verwandelte sich in einen Krampf. Sie kämpfte mit aller Kraft dagegen an, daß ihr Mund sich öffnete. Sie biß auf die Zähne. Und der Schauer, der sie durchbebte, war so heftig, daß der Engländer seinen Griff verstärkte. Auch er schaute in den Sarg. Er hatte sie gekannt!
Sieh sie an. Nichts anderes ist jetzt von Bedeutung. Du mußt dich nicht beeilen oder an irgend etwas anderes denken oder dir Sorgen machen. Sieh sie nur an, sieh dir ihr Gesicht an mit all seinen Geheimnissen, die jetzt für allezeit darin verschlossen sind.
Und Stellas Gesicht war so schön im Sarg. Sie hatte so wunderschönes schwarzes Haar…
»Sie wird ohnmächtig. Helft ihr! Pierce, hilf ihr!«
»Nein, wir halten sie; es ist alles in Ordnung«, sagte Lonigan.
So absolut und vollkommen tot sah sie aus, und so hübsch. Herausgeputzt für die Ewigkeit – pinkfarbener Lippenstift glänzte auf ihrem wohlgeformten Mund, Rouge lag auf den makellosen Mädchenwangen, und das schwarze Haar war über den Satin gebürstet wie das Haar eines Mädchens, offen und schön, und ein Rosenkranz, jawohl, ein Rosenkranz war ihr in die Finger geflochten.
In all diesen Jahren hatte Rowan so etwas noch nie gesehen. Sie hatte sie gesehen, wenn sie ertrunken waren oder erstochen, oder wenn sie im Schlaf auf der Station gestorben waren. Sie hatte sie farblos gesehen und vollgepumpt mit Chemikalien, nach Wochen, Monaten oder sogar Jahren aufgeschlitzt für den Anatomieunterricht. Sie hatte sie bei der Autopsie gesehen, wenn die behandschuhten Hände des Arztes blutrote Organe heraushoben.
Aber das hier noch nie. Noch nie ein so totes, hübsches Ding in blauer Seide, mit Spitze besetzt, das nach Gesichtspuder roch und einen Rosenkranz zwischen den Fingern hielt. Alterslos sah sie aus, fast wie ein zu groß geratenes kleines Mädchen mit ihrem unschuldigen Haar, ihrem faltenlosen Gesicht, ja, und auch mit dem glänzenden Lippenstift, dessen Farbe die Farbe von Rosenblättern war.
Ach, wenn es nur möglich wäre, ihr die Augen zu öffnen! Ich wünschte, ich könnte die Augen meiner Mutter sehen! Und hier in diesem Raum voll alter Leute ist sie immer noch so jung…
Sie beugte sich nieder. Ganz behutsam zog sie ihre Hand aus der des Engländers. Sie legte sie auf die fahlen Hände, auf die nachgebenden weichen Hände. Hart! Hart wie die Perlen des Rosenkranzes. Kalt und hart. Sie schloß die Augen und preßte ihre Finger in dieses unnachgiebige weiße Fleisch. So absolut tot, so weit jenseits von allem Leben. So endgültig vorüber.
Wenn Michael hier wäre… könnte er wohl an ihren Händen spüren, ob sie ohne Angst oder Schmerzen gestorben war? Könnte er den Grund für all die Geheimniskrämerei herausfinden? Könnte er dieses grausige, leblose Fleisch berühren und das Lied des Lebens darin noch hören? O bitte, Gott, wer immer sie war und warum sie mich auch weggegeben hat, ich hoffe, sie ist ohne Angst und Schmerzen gestorben. In
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