Hexenstunde
Frieden, in süßer Ruhe, wie ihr Gesicht sie jetzt zeigt. Sieh nur die geschlossenen Augen, die glatte Stirn.
Langsam hob sie eine Hand und wischte sich die Tränen von der Wange. Sie merkte, daß ihr Gesicht jetzt entspannt war.
Sie trat zurück, aber den Blick wandte sie nicht von der Frau im Sarg. Wieder ließ sie sich von dem Engländer führen, hinaus in einen kleinen Vorraum, den man eigens für sie hergerichtet hatte. Mr. Lonigan verkündete, es sei nun Zeit, daß sie alle einer nach dem anderen herankämen; der Priester sei auch hier, und er sei bereit.
Erstaunt sah Rowan, wie ein großer alter Mann sich niederbeugte und die Tote auf die Stirn küßte. Beatrice, die hübsche Frau mit den grauen Haaren, kam als nächste; sie flüsterte etwas, als sie die tote Frau auf die gleiche Weise küßte. Ein Kind wurde hochgehoben, damit es das gleiche tun konnte. Der kahlköpfige alte Mann kam schwerfällig heran; sein Bauch machte die Sache beschwerlich, aber er beugte sich doch nieder, um die Tote zu küssen, und er flüsterte heiser, daß jeder es hören konnte: »Lebwohl, Darling.«
Mr. Lonigan drückte sie sanft auf einen Stuhl. Als er sich umdrehte, beugte sich die weinende Frau mit den schwarzen Haaren plötzlich zu ihr herunter und schaute ihr in die Augen. »Sie wollte Sie nicht weggeben«, sagte sie, und ihre Stimme war dünn und flink wie ein Gedanke.
»Rita Mae!« zischte Mr. Lonigan und schob die schwarzhaarige Frau zur Tür hinaus und einen kleinen Gang hinunter.
Der Engländer stand in der Tür zum großen Raum und sah zu ihr herüber. Er nickte leise, und seine Brauen hoben sich, als erfülle ihn das alles mit Trauer und Erstaunen.
… wollte Sie nicht weggeben.
Was war es wohl für ein Gefühl, diese glatte, harte Haut zu küssen? Und sie taten es, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, das Einfachste auf der Welt; das Baby wurde hochgehoben, die Mutter beugte sich nieder, der Mann kam flink heran, und dann kam noch eine sehr alte Frau mit fleckigen Händen und schütterem Haar. »Hilf mir hinauf, Cecil«, sagte sie und stellte einen Fuß auf die samtene Kniebank. Das zwölfjährige Mädchen mit der Haarschleife erhob sich auf die Zehenspitzen.
»Rowan, möchten Sie noch einmal mit ihr allein sein? Das ist Ihr Augenblick, zum Schluß, wenn alle bei ihr waren. Der Priester wird dann warten. Aber Sie müssen nicht.«
Sie schaute in die milden grauen Augen des Engländers. Aber er hatte nicht gesprochen. Es war Lonigan gewesen, Lonigan mit seinem roten, glänzenden Gesicht und den porzellanblauen Augen. Weit hinten am Ende des kleinen Korridors stand seine Frau Rita Mae; sie wagte nicht, noch einmal näherzukommen.
»Ja, allein. Noch einmal«, flüsterte Rowan. Ihre Augen suchten die Augen Rita Maes, die dort hinten im Halbdunkel stand. »Es ist wahr.« Rita Maes Lippen formten die Worte, und sie nickte ernst.
Ja. Ich will ihr einen Abschiedskuß geben, so, wie die anderen es taten…
25
DIE AKTE ÜBER DIE MAYFAIR-HEXEN
TEIL X
Rowan Mayfair
STRENG VERTRAULICH,
AKTUALISIERTE ZUSAMMENFASSUNG 1989
Rowan Mayfair wurde am Tag ihrer Geburt, am 7. November 1959, rechtmäßig adoptiert von Ellen Louise Mayfair und ihrem Mann Graham Franklin.
Sie wurde mit dem Flugzeug nach Los Angeles gebracht, wo sie mit ihren Eltern wohnte, bis sie drei Jahre alt war. Dann zog die Familie nach San Francisco, Kalifornien, und wohnte zwei Jahre in Pacific Heights.
Als Rowan fünf Jahre alt war, zog die Familie zum letztenmal um, und zwar in ein Haus am Strand von Tiburon in Kalifornien – gegenüber von San Francisco auf der anderen Seite der Bay gelegen -, das eigens für Graham, Ellie und ihre Tochter entworfen worden war. Das Haus ist ein Wunderwerk aus gläsernen Wänden, offenliegendem Rotholzgebälk und modernen Installationen. Dazu gehören zwei großflächige Veranden, ein eigener sieben Meter langer Landungssteg und ein Bootsbassin, das zweimal jährlich abgelassen wird. Man hat einen Ausblick über die Richardson Bay nach Sausalito und – in südlicher Richtung – nach San Francisco. Rowan lebt heute allein in diesem Haus.
Zum Zeitpunkt dieser Niederschrift ist Rowan fast dreißig Jahre alt. Sie ist einen Meter fünfundsiebzig groß, hat kurzgeschnittenes weiches blondes Haar und große, hellgraue Augen. Sie ist unbestreitbar attraktiv und hat bemerkenswert schöne Haut, dunkle, gerade Augenbrauen, dunkle Wimpern und einen extrem schönen Mund. Aber um des
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