Hexenstunde
Muskeln und Blutgefäßen offen legte. Sie ahnten nichts von Marguerite und von der zappelnden Leiche auf ihrem Bett, aus der die Stimme eines Geistes blökte, von Julien, der dabei zusah, Julien, der die Gläser vor fast einem Jahrhundert auf dem Dachboden verwahrt hatte, statt sie zu vernichten.
Aaron wußte es, und Michael wußte es. Sie würden ihren Traum verstehen, den Traum von Kliniken und Krankenhäusern, von heilenden Händen, die zu Tausenden auf wunde und schmerzende Leiber gelegt wurden.
Was für einen Streich würde ich dir da spielen, Lasher!
Wenn sie nur die Erinnerung an die tote Frau aus dem Haus vertreiben könnte. Denn das war der eigentliche Geist für sie, nicht die Gespenster, die Michael gesehen hatte; wenn sie daran dachte, wie er dabei gelitten hatte, konnte sie es kaum ertragen. Es war, als habe sie mitangesehen, wie alles, was sie in ihm liebte, in ihm erstarb. Alle Dämonen der Welt hätte sie von ihm vertrieben, wenn sie nur gewußt hätte, wie.
Aber die alte Frau. Die alte Frau lag immer noch in ihrem Schaukelstuhl, als wollte sie ihn nie mehr verlassen. Und der Gestank, der von ihr kam, war schlimmer als der Gestank der Gläser, denn dies war Rowans Mord. Und das perfekte Verbrechen.
Der Gestank verdarb dieses Haus; er verdarb die ganze Geschichte. Er verdarb den Traum von den Kliniken. Und Rowan wartete an der Tür.
Wir wollen hinein, alte Frau. Ich will mein Haus und meine Familie. Die Gläser sind zerschlagen, und was darin war, ist weg. Ich habe die Geschichte in der Hand, so leuchtend wie ein Juwel. Ich werde Buße tun für alles. Laß mich hinein, damit ich diese Schlacht beginnen kann.
Sie hätte Michael nie dazu drängen sollen, die Handschuhe auszuziehen, und sie würde es auch nie wieder tun; dessen war sie sicher. Michael konnte die Kraft in seinen Händen nicht ertragen. In Wirklichkeit ertrug er es auch nicht, sich an seine Visionen zu erinnern. Es ließ ihn leiden, und erfüllte sie mit Grauen, seine Angst zu sehen.
Es war das Faktum des Ertrinkens, was sie zusammengeführt hatte, nicht diese geheimnisvollen dunklen Mächte, die im Hause lauerten. Die Stimmen, die aus verwesten Köpfen in Gläsern sprachen. Geister in Taftröcken. Seine Stärke und ihre Stärke, das war der Ursprung ihrer Liebe gewesen, und die Zukunft war das Haus, die Familie, das Vermächtnis, das Tausenden, ja, Millionen die Wunder der Medizin bringen konnte.
Was waren alle dunklen Geister und Legenden auf Erden, verglichen mit dieser harten, funkelnden Realität? Im Schlaf sah sie Gebäude in die Höhe wachsen. Sie sah die ganze Unermeßlichkeit. Und die Worte der Geschichte zogen sich durch ihre Träume. Nein, sie hatte nie vorgehabt, die alte Frau zu töten. Ein einziger, schrecklicher Fehler. Getötet zu haben. Etwas so Unrechtes getan zu haben…
Um sechs kam mit dem Frühstück auch die Zeitung.
SKELETTFUND IN BERÜHMTEM HAUS
IM GARDEN DISTRICT
Na, das war unvermeidlich, oder? Irgend wie hatte Ryan sie schon gewarnt, daß sich so etwas nicht unterdrücken ließe. Empfindungslos überflog sie die paar Absätze, wider Willen amüsiert über die Schauergeschichte, die sich hier in wunderlich altmodischem Reporterstil vor ihr entfaltete.
Wer konnte bestreiten, daß die Mayfairsche Villa schon immer mit Tragödien verknüpft war? Daß die einzige Person, die vielleicht ein wenig Licht auf das Hinscheiden des Texaners Stuart Townsend hätte werfen können, Carlotta Mayfair gewesen war, die nach einer langen und vorzüglichen Juristenlaufbahn in derselben Nacht gestorben war, da man die Überreste entdeckt hatte?
Der Rest war eine Elegie an Carlotta, die Rowan mit einem eisigen Gefühl der Schuld erfüllte.
Bestimmt archivierte jemand von der Talamasca diese Story. Vielleicht saß Aaron in diesem Augenblick oben in seiner Suite und las sie. Was würde er darüber in die Akte schreiben? Der Gedanke an die Akte tröstete sie.
Tatsächlich ging es ihr besser, als es ihr angesichts der Geschehnisse hätte gehen dürfen. Denn ganz gleich, was geschah: Sie war eine Mayfair unter all den ändern Mayfairs, und ihr geheimer Schmerz war verflochten mit sehr viel älterem, verzwickterem Schmerz. Sie war nicht allein. Nicht einmal mit dem Mord an der alten Frau war sie allein.
Nachdem sie den Artikel gelesen hatte, saß sie lange Zeit still da, die Hände auf der zusammengefalteten Zeitung verschränkt, während es draußen heftig regnete und das Essen auf dem Frühstückstisch kalt
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