Hexenstunde
als gerade die Sonne aufging, man sah die Eichhörnchen durch die Bäume huschen und hörte den wilden Gesang der Vögel, traurig, ja, verzweifelt.
Manchmal kroch Nebel über das Pflaster des Gehwegs. Die Eisenzäune schimmerten vom Tau. Der Himmel war überall rot durchschossen, blutig rot wie bei einem Sonnenuntergang, und langsam verblaßte er zu blauem Tageslicht.
Im Haus war es kühl um diese Stunde.
Und heute morgen war sie froh darüber, denn die allgemeine Hitze wurde allmählich strapaziös. Und sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, die ihr kein Vergnügen bereitete.
Sie hätte sich schon früher darum kümmern sollen, aber es war eine von jenen Kleinigkeiten, die sie lieber ignoriert hätte.
Als sie indessen jetzt die Treppe hinaufging, verspürte sie fast so etwas wie Eifer. Überrascht fühlte sie den leisen Stich der Erregung. Sie betrat das alte Hauptschlafzimmer, das ihrer Mutter gehört hatte, und ging an die andere Seite des Bettes, wo unbeachtet noch immer die samtene Börse mit Goldmünzen auf der Marmorplatte des Nachttisches lag. Auch der Schmuckkasten war noch da. In all dem Trubel hatte doch niemand gewagt, die Sachen anzurühren.
Sie starrte die Goldmünzen an, die aus der alten Samtbörse hervorgerollt waren und ein schmutziges Häuflein bildeten. Gott allein wußte, wo sie alle herkamen.
Sie nahm den Beutel, stopfte die losen Münzen hinein, nahm die Schmuckschatulle und ging damit hinunter in ihren Lieblingsraum, das Eßzimmer.
Das weiche Morgenlicht hatte eben erst den Weg durch die schmutzigen Fenster gefunden. Ein Gipsfleck bedeckte den halben Fußboden, und eine hohe, spinnenbeinige Leiter ragte hinauf zu der unvollendeten Stukkatur an der Decke.
Sie schob die Plane weg, die den Tisch bedeckte, zog das Laken vom Stuhl, setzte sich mit ihren Schätzen an den Tisch und legte sie vor sich hin.
»Du bist hier«, flüsterte sie. »Ich weiß, daß du hier bist. Du beobachtest mich.«
Ihr war kalt bei diesen Worten. Sie schüttelte eine Handvoll Münzen vor sich hin und schob sie auseinander, um sie im zunehmenden Licht besser betrachten zu können. Römische Münzen. Man brauchte keine Expertin zu sein, um das zu sehen. Und das hier, das war eine spanische Münze, mit erstaunlich klaren Zahlen und Buchstaben. Sie langte in den Beutel und zog einen weiteren kleinen Schatz hervor. Griechisch? Sie war nicht sicher. Sie hatten alle eine gewisse Klebrigkeit an sich, teils feucht, teils staubig. Zu gern hätte sie sie poliert.
Plötzlich fiel ihr ein, daß es eine gute Aufgabe für Eugenia sein würde, alle diese Münzen zu polieren.
Und kaum hatte dieser Gedanke sie zum Lächeln gebracht, da war ihr, als habe sie ein Geräusch im Haus gehört. Ein vages Knistern. Die Dielen singen, hätte Michael gesagt. Sie kümmerte sich nicht weiter darum.
Sie schob alle Münzen zusammen, warf sie in die Börse und legte sie beiseite; jetzt wandte sie sich dem Schmuckkasten zu. Er war sehr alt, rechteckig, mit schwarz angelaufenen Scharnieren. Der Samt war an einigen Stellen so abgenutzt, daß man das Holz darunter durchschimmern sah. Das Innere war tief und hatte sechs große Fächer.
Die einzelnen Juwelen waren indessen nicht geordnet. Ohrringe, Halsketten, Ringe, Broschen, alles lag wild durcheinander. Und unten in dem Kasten schienen rohe Edelsteine zu liegen, wie Kieselsteine, die matt glänzten. Waren das echte Rubine? Smaragde? Sie konnte es sich nicht vorstellen, aber sie konnte eine echte Perle nicht von einer künstlichen unterscheiden und echtes Gold nicht von imitiertem. Schöne Handwerksarbeiten waren diese Ketten, kundig gestaltet, und ein Gefühl von Ehrfurcht und Trauer überkam sie, als sie sie berührte.
Sie dachte an Antha, wie sie mit einer Handvoll Münzen durch die Straßen von New York gelaufen war, um sie zu verkaufen. Ein schmerzlicher Stich durchzuckte sie. Sie dachte an ihre Mutter im Schaukelstuhl auf der Veranda, mit Speichelfäden am Kinn und all diesem Reichtum in greifbarer Nähe, und mit dem Mayfair-Smaragd am Hals, als wäre es Flitterschmuck für Kinder.
Der Mayfair-Smaragd. Sie hatte nicht mehr an ihn gedacht, seit sie ihn am ersten Abend in der Geschirrkammer versteckt hatte. Sie stand auf und ging zu der Kammer – die, wie alles hier, die ganze Zeit über unverschlossen gewesen war -, und da lag das kleine Samtetui auf dem Holzregal hinter der Glastür, zwischen den Wedgewood-Tassen und Untertassen, wo sie es hingelegt hatte.
Sie trug es zurück zum Tisch,
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