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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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stellte es hin und öffnete es behutsam. Das Juwel der Juwelen – groß, rechteckig, kostbar funkelnd in seiner dunkelgoldenen Fassung. Und jetzt, da sie seine Geschichte kannte – wie sehr hatte sich ihre Haltung dazu verändert.
    Am ersten Abend war ihr der Stein unwirklich und ein wenig abstoßend erschienen. Jetzt kam er ihr vor wie etwas Lebendiges, das seine eigene Geschichte zu erzählen hatte, und unwillkürlich zögerte sie, ihn von dem schmutzigen Samt herunterzunehmen. Natürlich gehörte er ihr nicht! Er gehörte denen, die daran geglaubt hatten und die ihn mit Stolz getragen hatten – denen, die gewollt hatten, daß er zu ihnen kam.
    Nur für einen Augenblick fühlte sie das Verlangen, zu ihnen zu gehören. Sie wollte es leugnen, aber sie fühlte es doch – das Verlangen, das Vermächtnis vollständig und von ganzen Herzen zu akzeptieren.
    Wie eine Hexe gelüstete es sie nach dem Teufel. Sie lachte leise.
    Und sie fand es plötzlich unfair, sehr unfair, daß er ihr eingeschworener Feind sein sollte, noch bevor sie einander begegnet waren.
    »Worauf wartest du?« fragte sie laut. »Bist du wie der scheue Vampir aus dem Märchen, den man hereinbitten muß? Ich glaube nicht. Dies ist dein Zuhause. Du bist jetzt hier. Du hörst mich, und du beobachtest mich.«
    Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück, und ihr Blick wanderte über die Wandmalereien, die jetzt im blassen Sonnenlicht langsam zum Leben erwachten. Zum erstenmal entdeckte sie jetzt eine winzige nackte Frau in einem Fenster des nebelhaften Pflanzerhauses dort auf dem Gemälde. Und eine zweite verblaßte Nackte saß am dunkelgrünen Ufer der kleinen Lagune. Rowan mußte lächeln. Es war, als entdecke man ein Geheimnis. Ob Michael die beiden braunen Schönheiten wohl schon gesehen hatte? Oh, das Haus war voll von unentdeckten Dingen, und ebenso der traurige, melancholische Garten.
    Vor den Fenstern schwankte der Kirschlorbeer plötzlich im Wind, ja, er fing an zu tanzen, als habe der Wind ihn bei den steifen, schwarzen Ästen gepackt. Sie hörte, wie er am Geländer der Veranda scharrte. Er scharrte über das Dach und sank dann wieder in sich zusammen, als der Wind, wie es schien, zu der fernen Myrte weiterzog.
    Faszinierend, wie die hochragenden dünnen Zweige mit den zahllosen rosaroten Blüten sich dem Tanz ergaben, wie der ganze Baum die graue Mauer des Nachbarhauses peitschte und einen ganzen Schauer von gefleckten, flatternden Blättern herabwehen ließ – als zerfalle das Licht selbst in kleine Stückchen.
    Ihr Blick verschwamm ein wenig; sie merkte, wie ihre Glieder sich entspannten und wie sie einer vagen Traumhaftigkeit nachgab. Ja, schau, wie der Baum tanzt. Sieh den Kirschlorbeer an und den grünen Regen, der auf die Dielen der Veranda niederweht. Sieh die dünnen Äste, die sich heranrecken, um an den Fensterscheiben zu kratzen.
    Mit dumpfem Schock schärfte sie ihren Blick, und sie starrte die Äste an, beobachtete ihre gemeinsamen, planvollen Bewegungen, mit denen sie die Fensterscheiben streichelten.
    »Du«, wisperte sie.
    Lasher in den Bäumen. Lasher, wie Deirdre ihn im Dunkeln vor dem Internat zu sich kommen ließ. Und Rita Mae wußte bis heute nicht, was sie Aaron Lightner da eigentlich beschrieben hatte.
    Starr saß sie jetzt auf ihrem Stuhl. Die Bäume beugten sich heran und schwankten dann voller Anmut zurück, und ihre Äste verdunkelten die Sonne, und das Laub rieselte an den Fensterscheiben herunter, zerrissen und in einem wirbelnden Tanz. Aber im Zimmer war es warm und stickig.
    Sie konnte sich nicht erinnern, daß sie aufgestanden war. Aber sie stand. Ja, er war da. Er bewegte die Bäume, denn nichts sonst auf der Welt konnte sie dazu bringen, sich so zu bewegen. Feine Härchen sträubten sich auf ihren Armen, und ein unbestimmter Schauer lief ihr über die Kopfhaut, als ob sie dort etwas berührte.
    »Warum redest du nicht?« fragte sie. »Ich bin allein hier.«
    Wie seltsam ihre Stimme klang.
    Aber jetzt drangen andere Laute herein. Sie hörte Stimmen draußen. Ein Lastwagen war vorgefahren, und sie hörte das Schürfen des Gartentores, als die Arbeiter es über die Steinplatten schoben. Und noch während sie mit gesenktem Kopf wartete, drehte sich der Türknopf.
    »Hey, Dr. Mayfair…«
    »Morgen, Dart. Morgen, Rob. Morgen, Billy.«
    Schwere Schritte polterten die Treppe hinauf. Mit sanftem, tiefem Vibrieren kam der Aufzug herunter, und gleich darauf öffnete sich seine Messingtür. Schwerfällig, beinahe

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