Hexenstunde
daß du etwas gesehen hast, das dir angst gemacht hat.
Aber das sagte sie nicht. Denn der Tag war tatsächlich vollkommen gewesen, trotz dieses seltsamen Augenblicks. Vollkommen! Nichts hatte ihn verdorben.
Sie nahm noch einen kleinen Schluck von dem Champagner und genoß den Geschmack und ihre Müdigkeit, als sie merkte, daß sie noch zu aufgedreht war, um die Augen zu schließen.
Eine Woge des Schwindels ging plötzlich über sie hinweg, verbunden mit einem Hauch jener Übelkeit, die sie schon am Morgen verspürt hatte. Sie wedelte den Zigarettenrauch beiseite.
»Was ist los?«
»Nichts. Die Nerven, glaube ich. Als ich heute durch die Kirche ging, da war es wie beim erstenmal, als ich ein Skalpell oder so was in die Hand nehmen mußte.«
»Ich weiß, was du meinst. Ich mache die Zigarette aus.«
»Nein, nein, das ist es nicht, Zigaretten stören mich nicht. Ich rauche ja selbst hin und wieder.« Aber es war doch der Zigarettenrauch, nicht wahr? Genauso wie beim letzten Mal. Sie stand auf, und das leichte seidene Nachthemd fühlte sich an wie ein Nichts, als es an ihr herunterfiel. Barfuß tappte sie ins Badezimmer.
Kein Alka-Seltzer – das einzige, was bei solchen Gelegenheiten immer half. Aber sie hatte welches mitgebracht, fiel ihr ein. Sie hatte es in der Küche in einen Schrank getan, zusammen mit Aspirin, Pflaster und all den anderen Utensilien einer Haushaltsapotheke. Sie kam zurück und zog Pantoffeln und Neglige an.
»Wo willst du hin?« fragte er.
»Nach unten, ein Alka-Seltzer holen. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich bin gleich wieder da.«
»Warte, Rowan. Ich gehe schon.«
»Bleib da. Du bist nicht angezogen. Ich bin in zwei Sekunden wieder da. Vielleicht nehme ich den Aufzug – was soll’s?«
Es war nicht richtig dunkel im Haus. Durch die zahlreichen Fenster fiel ein fahles Licht aus dem Garten herein und beleuchtete den blanken Boden in der Diele, im Eßzimmer und sogar in der Geschirrkammer. Sie fand ihren Weg leicht, ohne das Licht einzuschalten.
Sie nahm das Alka-Seltzer aus dem Schrank und griff nach einem der neuen Kristallgläser, die sie und Bea auf einem Einkaufsbummel erstanden hatten. Sie füllte das Glas an dem kleinen Spülbecken. Dann trank sie das Alka-Seltzer und schloß die Augen.
Ja, besser. Wahrscheinlich reine Einbildung, aber sie fühlte sich besser.
»Gut. Es freut mich, daß du dich besser fühlst.«
»Danke«, sagte sie und dachte: Was für eine hübsche Stimme – so sanft und mit der Spur eines schottischen Akzents, nicht wahr? Eine schöne, melodische Stimme.
Sie riß die Augen auf und taumelte in heftigem Schrecken rückwärts gegen die Kühlschranktür.
Er stand auf der anderen Seite der Theke. Kaum einen Schritt weit von ihr entfernt. Seine geflüsterten Worte hatten rauh geklungen, von Herzen kommend. Aber sein Gesichtsausdruck war ein wenig kälter und ganz und gar menschlich. Ein wenig gekränkt vielleicht, aber nicht flehentlich wie in jener Nacht in Tiburon. Nein, überhaupt nicht.
Es mußte ein wirklicher Mann sein. Das war nicht irgendein Witz. Es war ein wirklicher Mann. Ein Mann, der hier in der Küche stand und sie anschaute, ein hochgewachsener Mann mit braunem Haar und großen dunklen Augen und einem wunderschön geformten, sinnlichen Mund.
In dem Licht, das durch die Verandatür hereinfiel, sah sie deutlich sein Hemd und die Wildlederweste, die er trug. Alte, alte Kleider, mit hand gemachten Nähten und unebenen Säumen, mit weiten, vollen Ärmeln.
»Nun? Wo ist dein Wille, mich zu vernichten, meine Schöne?« raunte er mit der gleichen leisen, volltönenden, tiefbetrübten Stimme. »Wo ist deine Macht, mich zurück zu jagen in die Hölle?«
Sie zitterte wie Espenlaub. Das Glas rutschte ihr aus den nassen Fingern, fiel mit dumpfem Klang zu Boden und rollte davon. Sie tat einen tiefen, rauhen Seufzer, ohne den Blick von ihm zu wenden. Der vernünftige Teil ihrer selbst beobachtete, daß er groß war, über einen Meter achtzig groß, und daß er muskulöse Arme hatte und starke Hände. Daß sein Haar leicht zerzaust war, als sei er durch den Wind gegangen. Es war nicht der zarte, androgyne Gentleman, den sie auf ihrer Veranda in Tiburon gesehen hatte, nein.
»Damit ich dich besser lieben kann, Rowan!« flüsterte er. »Welche Gestalt soll ich für dich annehmen? Er ist nicht vollkommen, Rowan, er ist ein Mensch, aber nicht vollkommen. Nein.«
Für einen Augenblick war ihre Angst so groß, daß sie sie wie einen straffen Druck
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