Hexenstunde
Ich kann warten. Aber du wirst den Gefallen an anderen verlieren, nachdem du nun mich gesehen und mit mir gesprochen hast.«
»Sei da nicht so sicher, Lasher. Ich bin stärker als die anderen. Ich weiß viel mehr.«
»Ja, Rowan.« Die turbulenten Schatten verdichteten sich – wie ein großer Kranz von Rauch, aber da war kein Rauch. Es umkreiste den Kronleuchter, wehte hinaus wie Spinnweben, die ein Luftzug erfaßt.
»Kann ich dich vernichten?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Rowan, du quälst mich.«
»Warum kann ich dich nicht vernichten?«
»Rowan, deine Gabe ist es, Materie zu verwandeln. Ich habe aber keine Materie in mir, die du angreifen könntest. Du könntest meine zeitweilige Gestalt verletzen, und das hast du getan, als ich am Wasser zu dir kam. Aber mich kannst du nicht vernichten. Ich war immer hier. Ich bin ewig, Rowan.«
»Und wenn ich dir nun sagte, es sei aus, Lasher, und ich würde dich nie wieder zur Kenntnis nehmen? Ich würde nicht die Tür sein? Ich sei die Tür, durch die die Mayfairs in kommende Jahrhunderte gelangen, die Tür für mein ungeborenes Kind und für die Dinge, die sich mein Ehrgeiz erträumt?«
»Kleinigkeiten, Rowan. Nichts im Vergleich mit den Geheimnissen und Möglichkeiten, die ich dir zu bieten habe. Stell dir vor, Rowan, wenn die Mutation vollendet ist und ich einen Körper habe, durchströmt von meinem zeitlosen Geist: Was kannst du da nicht alles lernen?«
»Und wenn es geschieht, Lasher, wenn die Tür geöffnet und die Verschmelzung vollzogen wird, wenn du vor mir stehst in Fleisch und Blut, wie wirst du mich dann behandeln?«
»Ich werde dich über alle menschliche Vernunft hinaus lieben, Rowan, denn dann bist du meine Mutter, meine Schöpferin, meine Lehrerin. Wie könnte ich dich nicht lieben? Und wie tragisch wird meine Abhängigkeit sein. Siehst du es nicht? Ich werde dich anbeten, meine geliebte Rowan. Ich werde dein Werkzeug sein bei allem, was du dir wünschst, und zwanzigmal so stark wie jetzt. Warum weinst du? Warum hast du Tränen in den Augen?«
»Es ist ein Trick, ein Trick aus Licht und Geräuschen, dieser Zauberbann, den du herbeiführst.«
»Nein. Ich bin, was ich bin, Rowan. Es ist deine eigene Vernunft, die dich schwach werden läßt. Du siehst weit. Du hast es schon immer getan. Zwölf Gräber und eine Tür, Rowan.«
»Ich verstehe das nicht. Du spielst mit mir, du verwirrst mich, ich kann dir nicht mehr folgen.«
Stille. Und wieder dieses Geräusch, als seufze die ganze Luft. Trauer. Trauer umhüllte sie wie eine Wolke, und wogende Schleier von rauchigem Schatten zogen durch den Raum.
»Du bist überall um mich herum, nicht wahr?«
»Ich liebe dich«, sagte er, und seine Stimme war leise wie ein Flüstern und ganz nah bei ihr. Es war, als berührten Lippen ihre Wange. Sie erstarrte, aber sie war so schläfrig geworden.
»Geh weg von mir«, sagte sie. »Ich will jetzt allein sein. Ich bin nicht verpflichtet, dich zu lieben.«
»Rowan, was kann ich dir geben? Welches Geschenk kann ich dir bringen?«
Wieder streifte etwas ihr Gesicht, berührte sie etwas, daß ein kalter Schauer sie überlief. Ihre Brustwarzen wurden hart unter der Seide des Nachthemdes, und ein dumpfes Pochen hatte in ihr begonnen, ein Hunger, den sie im Hals und in der Brust spürte.
Sie bemühte sich, einen klaren Blick zu bekommen. Es war dunkel im Zimmer. Das Feuer war niedergebrannt. Aber vor wenigen Augenblicken hatte es noch hell gelodert.
»Du machst mir etwas vor.« Die Luft schien sie überall zu berühren. »Du hast auch Michael etwas vorgemacht.«
»Nein.« Ein sanfter Kuß an ihrem Ohr.
»Als er ertrunken war. Seine Visionen. Du hast sie gemacht!«
»Nein, Rowan. Er war nicht mehr hier. Wohin er ging, dorthin konnte ich ihm nicht folgen. Ich gehöre nur den Lebenden.«
Sie zitterte am ganzen Leibe, und sie hob die Hände, um die Empfindungen abzustreifen, als wären es Spinnweben.
»Hast du die Geister gesehen, die Michael sah, als er allein hier im Pool schwamm?«
»Ja, aber nur durch Michaels Augen.«
»Was waren sie?«
»Das weiß ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil es Abbilder der Toten waren, Rowan. Ich bin von dieser Welt. Ich weiß nichts von den Toten. Ich weiß nichts von dem, was nicht zur Erde gehört.«
»Gott! Was ist denn das, die Erde?« Etwas berührte sie im Nacken, hob sanft ihr Haar.
»Sie ist hier, Rowan. Sie ist das Reich, in dem du existierst, und das Reich, in dem ich existiere, parallel zu dir und mit dir verflochten
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