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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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seiner Zange. Und der kleine, aufgeschlitzte Körper in dem dampfenden Brutkasten neben dem OP-Tisch war ein Fötus, der mit klaffendem Brustkorb weiterschlummerte. Es war ein Herz, was die Zange da hielt, nicht wahr? Du Monster, daß du so etwas tust! »Wir müssen schnell arbeiten, solange dieses Gewebe in seinem optimalen Zustand ist…«
    »Es ist sehr schwer für uns, durch zu dringen«, sagte die Frau.
    »Aber wer seid ihr?« fragte Rowan.
    Rembrandt saß am Fenster, so müde im hohen Alter, die Nase rund, das Haar strähnig. Schläfrig blickte er auf, als sie ihn fragte, was er dachte, und dann nahm er ihre Hand mit seinen Fingern und legte sie auf ihre Brust.
    »Ich kenne das Bild«, sagte sie. »Die junge Braut.«
    Sie erwachte.
    Die Uhr hatte zwei geschlagen. Sie hatte im Schlaf gewartet und gedacht, es kämen noch mehr Glockenschläge, zehn vielleicht, was bedeutet hätte, daß sie lange geschlafen hatte – aber zwei? Das war sehr spät.
    Sie hörte Musik von Ferne. Ein Spinett erklang, und eine leise Stimme sang ein langsames, trauervolles Weihnachtslied, ein altes keltisches Lied über ein Kind, das in die Krippe gelegt wurde. Der Geruch vom Weihnachtsbaum, süß duftend, und vom Feuer im Kamin. Köstlich in seiner Wärme.
    Sie lag auf der Seite und schaute zum Fenster, und sie betrachtete die Eisblumen, die sich an den Scheiben bildeten. Langsam nahm eine Silhouette Gestalt an – ein Mann stand mit dem Rücken zum Fenster, die Arme verschränkt.
    Mit schmalen Augen beobachtete sie den Prozeß: Das dunkelgebräunte Gesicht erschien, von Milliarden winziger Zellen geformt, und die tiefen, glitzernden grünen Augen. Die vollkommene Nachbildung von Jeans und Hemd; sie konnte die Bewegungen seiner Kleidung hören und sehen. Als er sich über sie beugte, sah sie die Poren seiner Haut.
    Wir sind also eifersüchtig, wie? Sie berührte seine Wange, berührte seine Stirn, wie sie Michael berührt hatte, und spürte ein Pochen unter der Haut, als wäre dort wirklich ein Körper.
    »Belüge ihn«, sagte er mit leiser Stimme, und seine Lippen bewegten sich kaum. »Wenn du ihn liebst, belüge ihn.«
    Fast spürte sie Atem auf ihrem Gesicht. Dann merkte sie, daß sie durch das Gesicht hindurch das Fenster dahinter sehen konnte.
    »Nein, geh nicht«, sagte sie. »Halte dich noch.«
    Aber die ganze Erscheinung verzog sich jetzt wie im Krampf und begann dann zu flattern wie eine Papiersilhouette im Wind. Sie fühlte seine Panik in heißen Wellen.
    Sie griff nach seinem Handgelenk, aber sie griff ins Leere. Heißer Wind zog über sie und über das ganze Bett hinweg, die Gardinen blähten sich für einen Moment ballonartig, und dann stieg der Frost an den Fensterscheiben empor und färbte sich weiß.
    Belüge ihn.
    Ja, natürlich. Ich liebe euch beide, nicht wahr?
     
    Er hörte nicht, wie sie die Treppe herunterkam. Die Vorhänge waren alle noch geschlossen, und in der Diele war es dunkel und still und warm. Ein Feuer brannte im vorderen Kamin im Salon. Die einzige andere Beleuchtung kam von dem Weihnachtsbaum, der mit unzähligen winzigen, funkelnden Lichtern behängt war.
    Sie blieb in der Tür stehen und beobachtete ihn; er saß ganz oben auf der Leiter und zupfte noch irgendeine Kleinigkeit zurecht, und dabei pfiff er leise die alte irische Weihnachtsmelodie von der Platte mit.
    »Ah, da ist ja mein Dornröschen«, sagte er mit diesem grenzenlos liebevollen und beschützerischen Lächeln, bei dem sie sich ihm am liebsten in die Arme geworfen hätte. Aber sie rührte sich nicht. Sie sah zu, wie er mit flinken, mühelosen Bewegungen von der Leiter herunter und ihr entgegenkam. »Geht’s dir jetzt besser, meine Prinzessin?« fragte er.
    »Oh, das ist so schön«, sagte sie. »Und dein Lied ist so traurig.«
    Sie schlang einen Arm um seine Taille und legte den Kopf an seine Schulter, als sie am Baum hinaufschaute. »Du hast es bildschön gemacht.«
    »Ah, aber jetzt fängt es erst an.« Er gab ihr einen Kuß auf die Wange und zog sie ins Zimmer zu dem kleinen Tisch am Fenster. Dort stand ein offener Pappkarton, und er winkte ihr, hineinzuschauen.
    »Sind die aber reizend!« Sie nahm einen kleinen Porzellanengel in die Hand; seine Wangen waren rosa überhaucht und seine Flügel vergoldet. Und hier war ein allerliebster, detailgenauer kleiner Weihnachtsmann, ein zierliches Porzellanpüppchen, in echten roten Samt gekleidet. »Oh, die sind ja entzückend. Woher kommen sie?« Sie nahm einen goldenen Apfel in die Hand, dann

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