Hexentochter
versuchte. Wer war das? Ein Deveraux. Michael? Nein. Sie schnappte nach Luft und griff nach ihrem Handy.
London, September 1666
Giselle Cahors ging vor dem Altar in dem prächtigen Haus des Mutterzirkels in London auf und ab. Sie betrachtete die Entscheidung der Hohepriesterin, den Tempel von Paris hierherzuverlegen, immer noch mit Skepsis und scheute sich nicht, ihre Meinung offen kundzutun.
»London ist kaum groß genug, um einen Coven darin zu verbergen, geschweige denn zwei«, bemerkte Giselle.
»Was sollen wir denn tun, Kind? Die Stadt dem Obersten Zirkel überlassen?«, entgegnete die Hohepriesterin des Mutterzirkels mit hochgezogenen Augenbrauen.
Giselle hielt inne und legte die Hand auf die geschnitzte Verzierung der hölzernen Wandvertäfelung. Mit der anderen berührte sie den Athame, der in der Schnürung ihrer üppigen schwarzen Röcke steckte.
»Nein, Priesterin. Ich würde den Obersten Zirkel vernichten wollen, statt zu versuchen, in seinem angestammten Territorium zu leben.«
»Und mit dem Obersten Zirkel würdest du auch deine Erzfeinde, die Deveraux, vernichten?« Die Hohepriesterin lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit ihrem weißen Kragen und dem langen Gewand ähnelte sie so sehr einer Nonne, dass Giselle sich immer wieder vor Augen führen musste, dass sie derselben Tradition angehörten. »Gilt deine Sorge dem Mutterzirkel oder deinem eigenen Haus?«
»Beiden«, entgegnete Giselle.
Die ältere Frau neigte den Kopf zur Seite. »Mein Kind, wenn deine Loyalität gespalten ist, können wir dir nicht trauen. Die Kraft deiner Bestimmung muss stärker sein als der Ruf deines Blutes. Wir werden gegen den Obersten Zirkel kämpfen, doch zu einem für uns günstigen Zeitpunkt und zu unseren Bedingungen. Wenn unsere Macht so weit gewachsen ist, dass sie die ihre übersteigt, dann können wir die Welt vom Bösen der Hexer befreien.«
Das Böse. Dieses Wort kam der älteren Frau so leicht über die Lippen, und Giselle konnte einen Schauer nicht unterdrücken. Sie starrte auf den Altar und die vielen Blutflecken darum herum auf dem Boden. Nur ein schmaler Grat trennte das Böse im Mutterzirkel vom Unheil des Obersten Zirkels.
»Sehr wohl, ma mere «, erwiderte Giselle knapp. »Ich werde die gehorsame Tochter des Covens sein, wie stets.«
»So ist es brav«, sagte die Hohepriesterin herablassend. Sie streckte die Arme aus, um den rituellen Gruß, eine Umarmung, entgegenzunehmen. »Und jetzt lass uns allein. Wir haben viel zu tun.«
Mit brodelndem Herzen umarmte Giselle die Hohepriesterin, neigte den Kopf und verließ das Allerheiligste.
Das könnte ein Fehler gewesen sein, dachte sie.
Da sie nicht allein gegen den gesamten Clan Deveraux in den Kampf ziehen konnte, hatte sie sich dem neu gegründeten Mutterzirkel angeschlossen. Dieser bestand aus Hexen, die behaupteten, »weißere« Magie zu praktizieren als der mächtigere Oberste Zirkel. Während der vergangenen Monate hatte Giselle des Öfteren Grund gehabt, an dieser Behauptung zu zweifeln.
Doch die Oberhäupter des Mutterzirkels sprachen die rechten Worte über die Überlegenheit der weißen Magie und führten der gesamten Coventry die passenden Gesten vor. Wenn man sie so reden hörte, war sie das Problem - sie mit ihrem Blutdurst. Es war ihr Cahors-Blut, das verdorben und böse war und im Zaum gehalten werden musste.
Zum tausendsten Mal fragte sie sich, wie ihre Großmutter Barbara gewesen sein mochte und ob sie, Giselle, ein anderes Bild von der Magie hätte, wenn das alte Oberhaupt ihres Covens lange genug gelebt hätte, um ihre Nachkommen zu prägen.
Dank Luc Deveraux würde sie auf diese Frage nie eine Antwort bekommen. Er war dafür verantwortlich gewesen, dass ihre Großmutter auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war. Seinetwegen war ihre Mutter ihr Leben lang auf der Flucht gewesen, bis er sie schließlich erwischt und dafür gesorgt hatte, dass Cassandra Cahors ertränkt wurde. Er glaubte, dass es ihm endlich gelungen sei, die Cahors-Linie auszulöschen, und dank dieser Leistung war er durch die Ränge des Obersten Zirkels aufgestiegen.
Er wusste nicht, dass ihm eine Cahors entgangen war.
Doch das würde er bald erfahren.
Sie hatte ihn in ihren Kristallen gesehen. Er war ganz in der Nähe. Seit Wochen las sie die Omen. Sie alle wiesen auf die nächsten paar Tage hin. Wenn sie Luc Deveraux endlich tot sehen wollte, würde sie vielleicht nie wieder eine bessere Gelegenheit
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