Hexenzorn
Marla. »Aber wir gehen besser aufs Dach. Ich will nicht, dass ich die Einrichtung hier bezahlen muss.«
Auf dem Hoteldach war B. unglaublich, nur dass nicht er es war. Der Umhang war unglaublich. Jeder wurde zu einem
kleinen Gott des Todes und der Schnelligkeit, wenn er die violette Seite nach außen trug, ein flitzender, dunkler Schatten mit der geschmeidigen Silhouette einer Raubkatze, ein verschwommener Fleck, und so war es auch bei B., als er die Lichtgeister angriff, die Marla für ihn als Sparringspartner projizierte - tanzende Körper, die Marla ähnlich sahen, jedoch wie mit gelblich leuchtenden Strichen umrissen waren. Marla hatte nur einmal gesehen, wie ein anderer den Umhang trug, nämlich als der tote Vogelmagier Somerset ihn ihr kurzzeitig entwendet hatte. Aber jetzt, da sie nicht in unmittelbarer Lebensgefahr war, bewunderte sie nur die schreckliche Schönheit des magischen Artefakts.
B. lernte die Grundbegriffe schnell, wie er den Umhang mit einem einzigen, konzentrierten Gedanken von Weiß nach Violett wenden konnte. Marla konnte sich in Violett hüllen, ohne dass ihr Bewusstsein eingreifen musste. Für sie war es eine reflexartige Verteidigungsreaktion, kontrolliert von ihrem Unterbewusstsein, aber B. würde den Umhang nicht lange genug tragen, um eine derartige Verbundenheit mit ihm zu entwickeln, noch würde er die vielen subtilen Techniken, mit denen sich die unkontrollierten, mörderischen Auswirkungen des Umhangs beherrschen ließen, erlernen. Marla hatte lange genug geübt, sie war in den Umhang so weit hineingewachsen, dass sie sogar verhindern konnte, dass sie jeden unweigerlich tötete, der ihr Leben bedrohte. B. würde diese Kontrolle nicht haben - jeden Feind, der ihm über den Weg lief, während er den Umhang trug, würde er weit jenseits aller chirurgischen Wiederherstellungs-Möglichkeiten zerfetzen, und auch B.’s Körper würde dabei beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen, seine Gelenke verdreht, seine Muskeln durch die gewaltige Kraft
überdehnt und Gewebestrukturen zerrissen werden. Als Marla den Umhang zum ersten Mal benutzt hatte, hatte sie sich beide Schultern und eine Kniescheibe ausgekugelt, sich das Schlüsselbein gebrochen und eine nicht gerade kurze Weile mit Schmerzen verbracht, die so stark gewesen waren, dass ihr davon übel geworden war, bis schließlich die weiße Seite ihre Heilkraft entfaltet, Marlas Schmerzen gelindert und die Gelenke wieder eingerenkt hatte.
Das war es, was den Umhang so perfekt machte: Zuerst verwandelte er seinen Träger in eine Killermaschine und schöpfte die Möglichkeiten seines Körpers fast bis zu dessen Tod aus, um ihn dann, unmittelbar danach, wieder zu heilen. Die Kraft war beängstigend, der Kontrollverlust schreckenerregend, und diese Kombination aus Angst und Schrecken hatte Marla dazu veranlasst, den Umhang immer weniger zu benutzen, obwohl sie jahrelang von seiner Wirkung geradezu berauscht gewesen war und sie sich darin wohl gefühlt hatte. Sie konnte sich gut vorstellen, welchen Kick B. gerade erleben musste, während er auf dem schwarzen Hoteldach hin und her sprang und Marlas immaterielle Doppelgänger zu sich auflösenden Lichtfetzen zerhackte. Als B. wieder auf dem Boden aufkam (auf allen vieren, kaum als Mensch erkennbar, eher wie ein schattenhaftes, katzenartiges Ding mit goldenen Augen) und keine Feinde mehr in Sicht waren, fiel sein Blick auf Marla, und er drehte sich in ihre Richtung, spannte seine Muskeln für einen neuerlichen Angriff.
Marla machte sich bereit, flüsterte eine Auftaktbeschwörung als Vorbereitung für einen unangenehmen Zauber, von dem sie hoffte, dass sie ihn nicht würde einsetzen müssen. Sie könnte ihn daran hindern, sie zu verletzen, falls er es versuchen sollte, aber es würde anstrengend werden und wahrscheinlich
beträchtlichen Lärm machen. Außerdem könnten sie beide danach für eine Stunde oder länger bewusstlos sein, aber sie musste es darauf ankommen lassen, musste wissen, ob B. sie auch auf dem Höhepunkt der Raserei als Verbündete erkennen und nicht angreifen würde. Marla selbst hatte gelegentlich durchaus Schwierigkeiten mit dieser Unterscheidung, doch hatte sie den Verdacht, ihre Neigung, selbst Freunde anzugreifen, während sie den Umhang trug, wäre eher ihrem tief verwurzelten Misstrauen allem und jedem gegenüber - außer sich selbst - zuzuschreiben. B. hatte einen wesentlich vertrauensvolleren Charakter - seltsamerweise, denn eigentlich sah er die Dinge klarer als die
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