Hexer-Edition 05: Der Seelenfresser
Hand und deutete auf den Wolfmann – »oder Wulf. Alle anderen hier. Sie haben sie gesehen, als Sie im Gasthaus waren.«
Ich nickte, brachte aber keinen Ton hervor. In meiner Kehle saß plötzlich ein würgender, bitterer Kloß. O ja – ich hatte sie gesehen. Und plötzlich verstand ich ihren Hass.
»Aber wieso?«, murmelte ich schließlich. »Was ist geschehen? Warum sollte er so etwas tun?«
»Nicht sollte«, unterbrach mich Ayres und mit einem Male klang ihre Stimme ganz kalt. »Er hat es getan, Mister Craven. Er kam hierher, eines Morgens im Jahre 1694, als er auf dem Wege nach Arkham war. Er wurde verfolgt. Von Menschen, deren Namen wir nicht kennen und über die wir nichts wissen; außer, dass sie Hexer wie Andara waren, vielleicht noch mächtiger als er. Er kam zu uns und suchte Unterschlupf und ein Versteck und die Leute hier gewährten ihm beides. Aber seine Feinde entdeckten ihn bald und es kam zum Kampf. Viele Bewohner von Innsmouth wurden getötet und schließlich musste Andara fliehen. Aber bevor er ging, sprach er einen Fluch aus, denn er glaubte, von uns verraten worden zu sein.« Sie schwieg. Ihr Gesicht zuckte, als bereite es ihr körperliche Schmerzen, über die Vergangenheit zu reden, und ich sah, wie sich ihre dürren Hände fest um die Tischplatte krampften.
»Wir haben ihn nicht verraten, Mister Craven«, fuhr sie schließlich fort. »Niemand hier. Die Menschen, die damals hier lebten, waren einfache Menschen, aber sie waren ehrlich und standen zu ihrem Wort, ihn zu verstecken und ihm zu helfen, selbst, als ihr eigenes Leben dabei in Gefahr geriet.« Ihre Stimme wurde bitter. »Doch ihre Ehrlichkeit wurde ihnen schlecht gedankt. Andara floh, aber sein Fluch blieb zurück, und seither ist jedes männliche Kind, das in Innsmouth geboren wird, ein Krüppel. Jedes, verstehen Sie? Manche mehr, manche weniger. Manche haben nur eine leichte Behinderung; einen Buckel, einen Klumpfuß oder eine Hasenscharte. Manche sind körperlich normal, aber ohne Hirn, geistlose Idioten, die wie Tiere vor sich hinvegetieren. Andere …« Sie sprach nicht weiter, aber ihr Blick suchte Wulfs Gesicht, und ich spürte einen eisigen, lähmenden Schauer.
»Sie meinen, er … er ist auch …«, stammelte ich.
Ayres nickte. »Er hätte ein Mensch werden sollen, Craven«, sagte sie. »Aber der Fluch Ihres Vaters hat ihn zu einem Ungeheuer gemacht. Nur ich bin in der Lage, mit ihm zu reden und ihn in Schach zu halten. Ich und Curd. Ohne uns wäre er hilflos wie ein Tier. Wenn er Innsmouth verließe, würde man ihn töten.«
»Und das alles hat Andara getan!«, fügte Temples gepresst hinzu. »Und nun sagen Sie noch einmal, dass es Ihnen Leid tut, Craven.« Er beugte sich vor, packte mich beim Kragen und schüttelte drohend die Faust vor meinem Gesicht. »Sagen Sie es und ich schlage Ihnen die Zähne ein!«, brüllte er. »Sagen Sie es!«
Ich blickte ihn an, schwieg aber und machte auch keinen Versuch, mich zu wehren oder seine Hand abzustreifen, und nach einer Weile senkte er den Blick, ließ mich los und trat wieder zurück. Ich seufzte, fuhr mir verstört mit den Händen durch das Gesicht und wandte mich wieder an die Alte.
»Ich kann nicht glauben, dass mein Vater so etwas getan haben soll«, sagte ich.
Ayres lachte. »Und doch hat er es getan, Craven. Die Beweise stehen neben Ihnen. Lebende Beweise. Wenn man so etwas Leben nennen kann.«
Ich ignorierte den letzten Satz. Ayres war verbittert, wie alle hier, und gegen Bitterkeit lässt sich nicht andiskutieren. »Diese Männer, die meinen Vater verfolgten«, sagte ich leise. »Wer waren sie? Woher sind sie gekommen?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete Ayres. »Und es interessiert uns auch nicht. Andara hat uns in seinen Streit hineingezogen, einen Streit, an dem wir keinen Anteil hatten, und Andara war es, der diese Stadt verfluchte. Niemand weiß, wer die Fremden waren.«
Sie log.
Ich habe Lüge und Wahrheit stets voneinander unterscheiden können, so untrüglich, wie ich Schwarz und Weiß zu unterscheiden wusste. Es war ein Teil meines magischen Erbes, immer zu wissen, ob mein Gegenüber die Wahrheit sagte oder log, und in diesem Moment sprang mich die Lüge regelrecht an. Ayres hatte sich vorbildlich in der Gewalt – ich bin selten vorher einem Menschen begegnet, der so perfekt die Unwahrheit zu sagen wusste. Aber sie log.
Trotzdem nickte ich und blickte einen Moment mit gespielter Enttäuschung zu Boden, ehe ich fortfuhr: »Das ist schade. Aber
Weitere Kostenlose Bücher