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Hexer-Edition 06: Die Chrono-Vampire

Hexer-Edition 06: Die Chrono-Vampire

Titel: Hexer-Edition 06: Die Chrono-Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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millionenfach verschlungenen Windungen seines Gehirns gespeichert waren, war plötzlich in mir.
    Ich erinnerte mich, erinnerte mich an jede Sekunde seines Lebens, jeden Triumph, jede Niederlage, jedes Gespräch, jede Schmach und jede Peinlichkeit, jede einzelne Erfahrung, die er irgendwann einmal gemacht hatte, durchlebte fünf Jahrzehnte in Millisekunden und wusste.
    Und er war ich. Der entsetzte Ausdruck in seinen Augen sagte es mir, dass er umgekehrt das Gleiche erlebte wie ich, dass er Robert Craven war, der Sohn des Hexers, meine Jugend, mein Leben als Tagedieb in den Slums von New York miterlebte, den Schrecken spürte, als mir meine wahre Identität enthüllt wurde, das ungläubige Entsetzen, als ich begriff, dass es hinter unserer Welt noch eine zweite, schrecklichere gab, meine Furcht, das erdrückende Gefühl der Hilflosigkeit …
    Unsere Hände lösten sich mit einem Ruck. Ich taumelte, sank auf die Pritsche zurück und verbarg das Gesicht in den Händen, während Tornhill wie versteinert stehen blieb und mich aus entsetzt aufgerissenen Augen anstarrte.
    Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren. Seine Lippen bebten und plötzlich begannen seine Hände zu zucken, als hätte er die Kontrolle über seine Glieder verloren. »Was …«, krächzte er. »Mein Gott, Craven, was … was haben Sie … getan?«
    »Das wollte ich nicht«, murmelte ich. Auch meine Stimme zitterte und ich spürte, wie ich mehr und mehr die Beherrschung zu verlieren begann. Das Entsetzen lähmte mich. Ich war über seine Seele hergefallen, hatte an den ureigensten Geheimnissen dieses Mannes gerüttelt und an den Tag gezerrt, was nur ihm gehörte und was kein anderer Mensch auf der Welt zu wissen berechtigt war. Ich hatte ihn gezwungen, mein eigenes Leben zu teilen, hatte seine Seele vergewaltigt, vielleicht die Grundlage all dessen, woran er glaubte, zerstört. Ich hatte das Leben eines Menschen seziert, nur weil ich es wollte, Kraft eines einzigen, unbedachten Gedankens. Plötzlich wurde mir klar; welch ungeheure Macht mir Roderick Andara hinterlassen hatte!
    »Das wollte ich nicht, Tornhill«, keuchte ich. »Bitte, glauben Sie mir! Ich … ich wusste nicht, was ich tat. Verzeihen Sie mir – bitte!«
    Tornhill machte einen schwerfälligen Schritt auf mich zu, hob die Hand und berührte mich beinahe sanft an der Schulter.
    »Es ist in Ordnung, Robert«, sagte er. »Ich weiß, dass du … dass du das nicht geahnt hast.« Er atmete hörbar ein, fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und setzte sich neben mich auf die Pritsche.
    Ich glaubte zu ahnen, was in ihm vorging, und wenn es nur halb so schrecklich war wie das, was ich in diesem Moment durchmachte, dann ging er durch die Hölle.
    »Verzeihen Sie mir«, murmelte ich noch einmal. »Ich wollte das nicht. Ich wollte nur, dass … dass Sie mir glauben.«
    Tornhill lachte, aber es klang wie ein Schrei in meinen Ohren. Plötzlich packte er mich, riss mich mit brutaler Kraft an den Schultern herum und schüttelte mich wild. »Ist das alles wahr?«, brüllte er. »Sagen Sie die Wahrheit, Craven! Wenn es ein Trick war, um -«
    Behutsam löste ich seine Hände von meinen Schultern, rutschte ein Stück zurück und schüttelte den Kopf. »Es war kein Trick, Tornhill!«, sagte ich.
    Er wusste, dass ich die Wahrheit sprach. Er hatte keine Sekunde daran gezweifelt. Sein plötzlicher Ausbruch war nur ein letzter, verzweifelter Versuch gewesen, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen.
    Tornhill stöhnte, ließ sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand sinken und begann krampfhaft zu schlucken. »Das … das ist schrecklich«, keuchte er.
    »Aber es ist die Wahrheit«, sagte ich. »Und ich fürchte, es wird noch viel mehr Schreckliches geschehen, wenn wir nicht zu Rowlf gehen und versuchen, herauszubekommen, was er uns sagen wollte.«
    Tornhill nickte, sah mich aber nicht an.
    Auch nicht, als wir wenig später das Gebäude von Scotland Yard verließen und in einer vierspännigen Kutsche nach Norden fuhren, auf das Regency-Hospital zu.
     
    Das Hospitalgebäude war selbst während der Nacht von Licht und Leben erfüllt. Rowlfs Zimmer lag ganz am Ende eines der zahllosen Korridore, die das Hospital wie die Gänge eines steinernen Ameisenbaues durchzogen. Vor der Tür hielt ein Polizist in der schwarzen Uniform der Londoner Bobbys Wache, der sich bei Tornhills Auftauchen straffte und einen diensteifrigen Ausdruck auf seine verschlafenen Züge zu zaubern versuchte. Tornhill scheuchte

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