Hexer-Edition 06: Die Chrono-Vampire
diese Frau in Salem getroffen. In einer Stadt, die vor zweihundert Jahren zerstört wurde!« Plötzlich wurde meine Stimme lauter, ich schrie beinahe, obwohl ich es nicht wollte. Aber die Erregung übermannte mich einfach. »Du bist nichts als ein Freund meines Vaters, wie? Sonst nichts. Nur ein -«
»Ich bin ein ganz normaler Mensch«, unterbrach mich Howard. Seine Stimme war plötzlich ganz ruhig, bar jeden Gefühles oder jeder Regung. Sie klang eisig.
Mit einer abrupten Bewegung stand er auf, nahm seine Jacke von der Stuhllehne und steckte die beiden Pässe in die Innentasche. Sie rutschten durch das Innenfutter und fielen wieder heraus. Howard presste wütend die Lippen aufeinander, bückte sich und stieß sich den Schädel an der Schreibtischkante, als er sich wieder aufrichtete.
»Es reicht wirklich, Robert«, sagte er gepresst. »Ich habe mich deiner angenommen, als du damals hierher gekommen bist, obwohl wir uns nie zuvor gesehen haben. Ich habe es getan, weil dein Vater und ich Freunde waren und ich habe gedacht, dass wir vielleicht auch einmal Freunde werden würden!« Er lachte bitter. »Eine Weile habe ich wirklich geglaubt, dass es so wäre. Ich dachte, ich hätte meinen Freund Roderick wiedergefunden, in dir. Aber ich habe mich getäuscht.«
»Bitte, Howard«, sagte ich. »Du weißt genau -«
Howard schnitt mir mit einer wütenden Bewegung das Wort ab und schlüpfte in seine Jacke. »Nichts weiß ich«, sagte er. »Ich weiß nur, dass du mich enttäuscht hast, Robert. Ich dachte, dass das, was wir gemeinsam erlebt haben, ausreicht, um dich von meiner Loyalität zu überzeugen. Aber alles, was ich sehe, ist Misstrauen.«
Auf meiner Zunge breitete sich ein unangenehmer Geschmack aus. Ich wusste, dass seine Worte zu einem Gutteil nur aus Zorn geboren waren – es war ganz normal, dass er nun seinerseits zum Angriff überging wie ein Tier, das in die Ecke gedrängt war und keine Möglichkeit mehr sah zu fliehen.
Und trotzdem waren sie mehr. Sie enthielten die Wahrheit, die mir bisher selbst verborgen gewesen war. Und die weh tat. Sehr weh.
»Es … tut mir Leid, Howard«, sagte ich.
Howard lächelte, sehr dünn und sehr bitter. Er wich meinem Blick aus. »Mir auch, Robert«, sagte er leise. »Mir auch.«
Das Haus lag in einem Außenbezirk Londons, in einem Gebiet, in dem sich die Stadt vor Jahrzehnten einmal auszubreiten begonnen hatte, ihr Wachstum dann aber aus Gründen, die heute niemand mehr zu sagen wusste, wieder einstellte. Zwei, drei der Straßen, die das heruntergekommene Viertel durchzogen, endeten im Nichts; Fragmente einer Planung, die niemals zu Ende geführt worden war.
Ein paar Grundstücke waren abgesteckt, Keller ausgehoben und Fundamente gemauert worden, aber die Häuser waren niemals gebaut worden. Jetzt gähnten dort, wo prächtige Villen und fünfstöckige Mietshäuser hatten entstehen sollen, nur eine Anzahl regelmäßig angeordneter Löcher im Boden; Gruben, die wie bizarre rechteckige Krater wirkten, zum Teil mit Regen- und Grundwasser gefüllt, sodass sie zu kleinen öligen Seen geworden waren, mit Unkraut und Gestrüpp überwuchert.
Auch das Haus war verfallen. Es war gebaut und für kurze Zeit auch bewohnt gewesen, aber die Menschen, die es bezogen hatten, waren wieder fortgegangen. Wie viele Gebäude in diesem Viertel stand es leer und war Verfall und Alter preisgegeben.
Und trotzdem beherbergte es Leben. Die Natur, die schon die Baugrundstücke und Gruben zurückerobert hatte, hatte auch hier mit Moos und Flechten und dünnen Wurzelfingern Fuß gefasst; seine Wände waren vom Schwamm durchzogen und da und dort hatte ein Busch oder Strauch seine Wurzeln in die Fugen gekrallt und begann das Mauerwerk zu zermürben, langsam, in einem Prozess, der vielleicht Jahrzehnte dauern würde. Irgendwann würden Eis und Wasser hinzukommen und das spröde gewordene Mauerwerk von innen heraus sprengen.
Schon jetzt hing über der zugenagelten Tür ein Schild, das jeden Besucher warnte, das Haus zu betreten. Jemand hatte mit roter Farbe Einsturzgefahr! darüber gemalt. Die Farbe war abgeblättert und von Wind und Jahreszeiten heruntergewaschen worden. Aber es betrat auch so nie jemand dieses Haus, denn es gab etwas Unheimliches an ihm, etwas, das nicht in Worte zu fassen, aber deutlich zu spüren war wie ein finsterer Atem. Die Menschen, deren Weg an dem Haus vorbeiführte, machten einen großen Bogen um die Ruine, selbst am Tage.
Seine leeren Fensterhöhlen, die wie
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