Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II
unbemerkt befreiten, denn dies sei die einzige Möglichkeit für uns, an den Wagen zu kommen.
Vorsichtig trat ich neben ihn und spähte durch eine Lücke im Buschwerk dorthin, wo ich die Bewegung gesehen hatte. Da drüben rührte sich jetzt nichts mehr, aber die alte Fabrikanlage war auch so unheimlich genug. Ich erinnerte mich gut an Hennesseys Behauptung, dass sie bis vor fünf oder sechs Jahren noch gearbeitet hätte. Aber was ich sah, ließ mich heftig am Wahrheitsgehalt dieser Worte zweifeln. Die beiden großen und das gute Dutzend kleinerer Gebäude, die sich in einem unsymmetrischen Halbkreis vor uns gruppierten, waren nichts weiter als verfallene Ruinen, an denen die Zeit seit einem halben Jahrhundert genagt zu haben schien. Kein einziges Fenster hatte noch Glas. Die Dächer waren eingesunken und wiesen Löcher auf, in die man bequem ein normales Wohnhaus hätte hineinstellen können, und hier und da waren selbst die Mauern eingebrochen und zu staubverkrusteten Schutthalden geworden. Nicht weit von uns entfernt erhoben sich eine Anzahl symmetrisch aufgeschichteter Holzstapel, doch die meisten davon waren so von Unkraut und Moos bedeckt, dass einzig ihre zu regelmäßige Form verriet, dass es sich um keine Erhebungen natürlichen Ursprungs handeln konnte. Über allem lag ein schwer greifbarer Hauch von Moder, Verfall und süßlicher Verwesung.
»Dort drüben?«, fragte ich zweifelnd.
Tom nickte heftig. Er flüsterte. »Sie treffen sich immer im Hauptgebäude«, sagte er. »Wo früher die Maschinen standen. Wahrscheinlich haben sie auch den Wagen dort versteckt.«
Ich sagte nichts dazu, sondern sah mich noch einmal sichernd nach allen Richtungen um, wollte einen Schritt auf die Lichtung hinaus tun und prallte im letzten Augenblick wieder zurück, denn ich gewahrte abermals eine Bewegung. Diesmal war es keine Einbildung und nachdem ich mich hastig wieder in den Schutz des Unterholzes zurückgezogen hatte und aufmerksamer zu den Gebäuden hinübersah, erkannte ich eine, dann zwei, drei und schließlich ein halbes Dutzend kleiner Gestalten, die aus einer schräg in den Angeln hängenden Metalltür heraustraten und sich dem Waldrand näherten. Als sie ihnfast erreicht hatten, trat ein Mann aus dem Gebüsch. Etwas stimmte mit ihm nicht. Er war zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen, aber er … bewegte sich nicht richtig. Und irgendetwas an seiner Gestalt war falsch.
Aber erst, als er die Kinder erreicht und sie sich umgewandt hatten, um zusammen mit ihm zurück zum Sägewerk zu gehen, sah ich, was es war. Die Gestalt war nicht die eines Menschen. Sie hatte Arme, Beine und einen Kopf, aber damit hörte die Ähnlichkeit auch schon wieder auf. Die Schultern waren zu breit und zu massig, die Beine zu stämmig und die Arme zu lang und zu muskulös, und der Kopf wuchs ansatzlos und buckelig aus den Schultern heraus. Die Gestalt ähnelte eher einer grotesken, aufrecht gehenden menschengroßen Kröte als wirklich einem Menschen.
Und im Grunde war sie das auch. Ich begriff beinahe sofort, was ich vor mir hatte, aber es dauerte noch einmal eine ganze Weile, ehe mir klar wurde, wer es war. Dies gestand ich mir erst ein, als ich das mühsame, schleppende Humpeln des TIEFEN WESENS registrierte, die von Schmerz kündende Art, in der es den rechten Arm hielt, und die deformierte Linie seiner rechten Schulter und der rechten Kopfseite.
Es war Hennessey. Er hatte den Sturz auf die Klippen überlebt. Er war verletzt, schwer verletzt sogar, und hätte es meiner Art entsprochen, so hätte ich bei dem Gedanken vermutlich eine grimmige Befriedigung verspürt, dass er für den Rest seines Lebens verkrüppelt bleiben würde. So aber erfüllte mich der Anblick nur mit neuerlichem Schrecken. Ein Sturz aus mehr als zwanzig Metern Höhe auf die messerscharfen Klippen – was um alles in der Welt musste man tun, um ein solches Geschöpf zu töten?
»Wer ist das?«, flüsterte Tom neben mir.
Ich erinnerte mich erst jetzt wieder seiner Anwesenheit, fuhr erschrocken zusammen und machte eine hastige Bewegung, still zu sein. Meine Erfahrung mit den TIEFEN WESEN war nur sehr begrenzt und stammte zum allergrößten Teil aus zweiter oder dritter Hand. Zwar waren Hennessey und die Kinder gute dreißig oder vierzig Schritte von uns entfernt, aber ich traute diesen Geschöpfen mittlerweile alles zu; auch, Ohren wie ein Luchs zu haben.
Ich gab Tom mit hastigen Gesten zu verstehen, still zu sein, bis die unheimliche Prozession wieder im
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