Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II
wiedererstandene R’lyeh war nicht mehr da. Die Straße, auf der sie standen, führte wieder durch eine schier endlose Trümmerlandschaft. Die Illusion war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war.
In der ersten Sekunde zweifelte Howard schlichtweg an seinem Verstand. Tief in sich spürte er, dass es nicht so war, aber für einige wenige Augenblicke klammerte er sich noch an die Erklärung, dass er sich alles nur eingebildet hatte, Opfer einer Illusion, eines bösen Streiches seiner eigenen Nerven und seiner überreizten Phantasie geworden sein mochte. Doch dann drehte er sich zu Rowlf herum, blickte in dessen schreckensbleiches Gesicht und las in dessen Augen die gleiche, wahnsinnig machende Furcht, die auch er verspürte. Es war keine Illusion gewesen.
»Mein Gott, Howard – was … was war das?«, stammelte Rowlf. Seine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Krächzen. Er hatte Mühe überhaupt zu sprechen, und in seinem Blick lag ein fast verzweifeltes Flehen, von Howard eine Antwort auf diese Frage zu hören, irgendeine Erklärung, und sei sie noch so absurd und an den Haaren herbeigezogen.
»Ich weiß es nicht«, log Howard. »Vielleicht nur … ein Trugbild.« Er bewegte sich nervös auf der Stelle. »Wir sollten hier verschwinden«, fuhr er fort, »und zwar so schnell wie möglich. Wer weiß, was noch passiert, wenn wir zu lange bleiben. Außerdem wartet George bestimmt schon ungeduldig auf unsere Rückkehr.«
Sie rannten nicht direkt, denn dazu war die Strecke, die vor ihnen lag, eindeutig zu weit, aber sie bewegten sich doch so schnell, wie es gerade noch ging. Rowlf und er sprachen nicht mehr, denn sie beide brauchten ihren Atem, um in der heißen, salzigen Luft so schnell wie möglich voranzukommen, aber Howards Blick huschte immer nervöser und ängstlicher über die zerborstenen Trümmer rechts und links der Straße. Jeden Moment rechnete er damit, eine Gestalt dazwischen aufwachsen zu sehen, ein neues Erbeben in der Zeit zu spüren, nach dem R’lyeh vielleicht endgültig wiederauferstehen würde, Schatten zu erblicken, die mehr als nur die Abwesenheit von Helligkeit und Licht waren. Sie wussten beide, wie armselig die Erklärung war, die er auf Rowlfs Frage abgegeben hatte. Es gab keine Illusion, der zwei Menschen zugleich und auf dieselbe Art erlagen. Was sie gesehen hatten, war wirklich gewesen. Plötzlich musste er wieder an das denken, was er selbst vor wenigen Stunden erst George gesagt hatte: Dies war nur eine von unendlich vielen möglichen Zukünften. Die Zeit war ein Strom, der sich ununterbrochen verzweigte. Vielleicht gab es etwas wie einen Knotenpunkt, einen Moment, der von den Menschen Gegenwart genannt wurde und jenseits dessen die Dinge unveränderbar blieben, doch alles, was davor lag, waren nur Möglichkeiten. Die Welt konnte zu der der Morlocks und Eloi werden und R’lyeh konnte zu einer leblosen Ruinenstadt verfallen, die am Ende der Zeit dahindämmerte. Doch so, wie diese verheerte Stadt nur eine Möglichkeit war, konnte sich die Zukunft ebenso gut in eine vollkommen andere Richtung bewegen. Die Erklärung war so simpel wie entsetzlich: Irgendwann, vor einer Zeit, die Howard nicht einmal zu schätzen imstande war, die aber Millionen und Abermillionen Jahre zurückliegen musste, war R’lyeh zerstört worden. In dieser Zukunft, die ganz zweifellos die wahrscheinlichste aller Möglichkeiten darstellte. Aber wahrscheinlich bedeutete im komplizierten Geflecht der noch nicht festgeschriebenen Zeit nicht unbedingt. R’lyeh musste nicht zerstört werden. Was Rowlf und er gesehen hatten, das war die Stadt der Dämonen gewesen, die nicht vernichtet worden war. Und es gab für dieses unheimliche Erbeben in der Zeit nur eine einzige, logische Erklärung: Dies mochte die wahrscheinlichste aller möglichen Zukünfte sein, die Entwicklung, auf die die Welt zusteuerte, wie sie im Moment war. Aber was noch nicht geschehen war, konnte geändert werden.
Und irgendjemand – oder etwas – war dabei, genau dies zu tun.
Das Unwetter hatte ein wenig nachgelassen. Es regnete noch immer, aber die Dämmerung wich allmählich dem ersten wirklichen Tageslicht und der Sturm hatte sich völlig gelegt. Der Regen fiel jetzt senkrecht vom Himmel, allerdings noch immer mit der Gewalt eines kleinen Wasserfalles. Mit dem Abflauen des Sturmes waren die Temperaturen empfindlich gefallen. Es war bitter kalt.
Kälte und Feuchtigkeit waren jedoch nicht der einzige Grund für das Zittern meiner
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